Freitag, 22. Dezember 2017
Was willst du?
"Was willst du? Was willst du?" "Einen Lamborghini". Nicht in der halbstarken Konnotation war die Eingangsfrage gemeint. Man wird langsam erwachsen (auf mich selbst beziehe ich mich hier retrospektiv, ich habe den Herbst 1998 im Sinn, aber es gibt durchaus Leute, die Glücklichen, die erst mit 30 und später anfangen, erwachsen zu werden). Dann wird einem die Frage gestellt, was man will. Mit einem diabolischen Lächeln, versteht sich. Denn der Rahmen dessen, was man wollen könnte, ist bereits abgesteckt, und man kann nur aus (wörtlich verstanden) gegebenen Möglichkeiten wählen.
Was will ich? Ich bin Mitte 15 und will ein schönes Mädchen kennenlernen, das mir ein furchtbares Geheimnis offenbart. Das Geheimnis lautet wie folgt: "Ich komme aus einer anderen Welt, und diese ist in Gefahr. Durch quantenmechanische Wechselwirkungen zwischen mehreren Multiversen ist die Feinstrukturkonstante meiner Welt ins Schleudern gekommen, sprich nicht mehr konstant. Du sollst dich nicht aufgrund meiner physikalisch am Rande der Unmöglichkeit befindlichen Schönheit mit mir verbünden, sondern um auch dein Universum, das ein Teil unseres gemeinsamen Multiversums ist, vor dem schwer-kräftigen gravitativen Untergang zu retten". Das will ich.
Nein, was willst du wirklich? Ingenieur werden, vielleicht Lehrer, oder Staatsminister, oder Universitätsprofessor? Selbstverständlich werde ich das Abitur machen und irgendetwas davon schon auswählen - um zu überleben. Aber ich werde mit komischen (statt kosmischen) Blicken dazu verdonnert, so zu tun, als dies bereits mein Lebensziel wäre. Ich frage nach: nicht einmal das Überleben, das jedes Tier zum Ziel seines Daseins genetisch auferlegt bekommt, soll mein Lebensziel sein? Noch weniger - ein Mittel zum Überleben als Lebensziel? Ihr habt da einen Menschen auf die Welt gebracht, keine Pflanze. Vom "Ebenbild Gottes" rede ich hier gar nicht - aber mein Selbst-Bewusstsein ist eine Tatsache! Wenn nicht mit Gott, dann doch mit Kant bin ich doch auch Bürger einer geistigen Welt. Und ich soll versteinern, anstatt in ihr zu leben?
Wir sind alle in Zwänge und Zwangszusammenhänge hineingeboren, und es macht keinen Unterschied, ob Kaiser Wilhelm oder die US-Notenbank für das Elend des 20. Jahrhunderts verantwortlich ist - auf den Knochen der Geschundenen haben unsere Eltern Eigenheime gebaut, worin sie uns Nächstenliebe und Gerechtigkeit gelehrt haben. Wir finden stets eine Welt vor, fangen nie neu an. Sind wir aber deshalb an all dem schuld, was vor uns war? Ich bezweifle, dass auch nur ein nach 1929 geborener Deutscher nach seinem Tod für Hitlers Verbrechen in die Hölle kommt. Politische Verantwortung (besser: historisches Erbe) und persönliche Schuld sind vier Schuhe. Kurz: wir sind weder an die Vergangenheit noch an die vorgefundenen Zwänge gebunden.
Warum binden wir uns dennoch daran, und lassen unser Leben davon bestimmen? Wer in einer Alkoholikerfamilie groß wurde, oder als Kind unter einer Scheidung zu leiden hatte, oder misshandelt wurde, gibt sich selbst die Schuld am Erlebten, um psychisch zu überleben, denn nur so kann das Kind in einer Illusion leben, nicht ohnmächtig zu sein. Warum bist du schuldig, Kind? Wenn ich nicht schuldig bin, habe ich nicht die Macht, etwas zu ändern, und bin übermächtigen Erwachsenen hilflos ausgeliefert! Kein Mensch hält das lange aus; von der totalen psychischen Umnachtung über Borderline bis zum Narzissmus bilden sich unterbewusst Schutzmechanismen, die später ein Leben lang fortwirken. Man entwächst seiner Ohnmacht und bleibt dennoch in ihr gefangen.
Was willst du also? Du. Nicht: was wählst du aus dem Vorgefundenen? Nicht: welche fremde Schuld fühlst du dich zu tragen berufen? Was willst du? Willst. Wollen. Wille. Dein Weg war lang: aus dem Sein-Nichts-Gegensatz wurde über Sosein (Qualität), Teilchenhaftigkeit (Quantität), Mechanismus, Chemismus, vegetatives Nervensystem, Wahrnehmung, Verstand, Vernunft schließlich der Wille. Der Wille ist frei wie der Geist denkend und der Körper ausgedehnt. Was du willst, bestimmst du selbst, nicht die Umstände, nicht die Zustände. Ist das, was du willst, zufällig unmöglich? Dann schau auf deinen langen prähistorischen Weg zurück: dass aus Nichts etwas wird, dass aus Leblosem Leben wird, dass aus Unbewusstem Bewusstsein wird, ist unmöglich, aber es ist geschehen.