Mittwoch, 7. Februar 2018

Pflichten





"Es", so der mit 23 freitodgestorbene Wiener Philosoph Weininger, "gibt nur Pflichten gegen sich selbst". Welche Pflichten denn? Wäre ich ganz allein auf der Welt, welchen Sinn hätten noch Pflichten? Das Alleinaufderweltsein ist mitnichten eine bloß hypothetische Annahme, sondern die logische Konsequenz so gut wie aller psychologistischen und modernistischen "Philosophien". Doch selbst ein moderner Philosoph, Wittgenstein, hat seinen Kant gelesen: Der ethische Solipsismus Kants (Pflichterfüllung als Selbstzweck; der Glückseligkeit würdig werden, ohne sie in Aussicht gestellt zu bekommen) ist, weiß Wittgenstein, kein Egoismus, sondern eine Überschreitung der Grenzen der Privatsphäre durch eine absolut gesetzte Ethik, eine Ethik, die selbst in der Einsamkeit nicht sinnlos wird, und vor deren Forderung man sich auch mangels anderer Menschen oder in Ermangelung verwirklichungswürdiger Werte in der Welt nicht verstecken kann. Kant treibt es sogar absichtlich auf die solipsistische Spitze, und Wittgenstein weiß, warum: um zu zeigen, dass selbst in der absoluten Einsamkeit Ethik einen Sinn hat.

Ethik setzt Selbstzwecke voraus. Bin ich mir ein Selbstzweck, so habe ich mir selbst gegenüber Pflichten. Das ist aber so abstrakt, banal und einsichtig, dass es erst komplizierter gemacht werden muss, um begriffen zu werden. Gegeben sei ein Familienvater, der die absolute Privatsphäre für sein Haus beansprucht: sein Privatleben, in welches auch seine Kinder hinein gehören, gehe die Öffentlichkeit nichts an. So weit, so schuldig: deine Kinder sind nicht ein Teil von dir, sondern ein Teil der ungeliebten Öffentlichkeit, andere und souveräne Persönlichkeiten. Viele Eltern begehen (mal von Ungeheuerlichkeiten zu schweigen) täglich Freiheitsberaubung gegenüber ihren Kindern, indem sie ihre elterlichen Kompetenzen bei der Erziehung weit überschreiten, und in die Persönlichkeit des Kindes hineingreifen. Dass Kinder durch dieses Hineingreifen z.B. nicht verhungern, ist eine zynische Bemerkung, mit welcher die Hyäne aus dem Zyniker herausbellt, denn Zynismus gegenüber Wehrlosen ist feige, nicht lakonisch, und gehört bestraft nicht mit der Ohrfeige, vielmehr drakonisch. Der Selbstwiderspruch in der Sache ist aber: indem Eltern zu tief in die Persönlichkeit ihrer Kinder hineingreifen, verletzen sie ihrerseits eine Privatsphäre, womit sie ihr Recht auf Privatsphäre gegenüber der Öffentlichkeit verwirken.

Wir haben die äußeren Symptome des Gebrechens behandelt, nun zu den inneren Ursachen: man kann sich, so der gesunde Menschenverstand, nur gegenüber anderen Menschen ethisch verhalten. Seine eigene Wahrnehmungswelt tut aber niemand jemals verlassen; subjektiv ist der Solispsismus keine Denkoption, sondern ein Grundmodus des Welterlebens. Alles, was ich wahrnehme, verhält sich in einer bestimmen Weise zu mir; sein ist für mich dasselbe wie von mir wahrgenommen werden. Wenn nun all die Menschen da draußen von meiner Wahrnehmung abhängig sind, und sobald diese aussetzt (etwa mit meinem Tod), für mich nicht mehr existieren, sind sie subjektiv ein Teil von mir. Somit handle ich immer innerhalb meiner eigenen Wahrnehmungswelt, und es macht keinen Unterschied, ob bloß meine Wahrnehmung solipsistisch beschaffen ist, oder ob ich den philosophischen Solipsismus bewusst zu meiner Weltanschauung mache.

Im ersten Fall scheiterten wir daran, unsere Innenwelt (Privatsphäre) gegen das Außen abzugrenzen, weil diese Abgrenzung ihrerseits eine Grenzüberschreitung dem Inneren eines Anderen (des eigenen Kindes) gegenüber bedeutete. In zweiten Fall scheiterten wir bei der Zurückweisung eines vermeintlichen Äußeren (anderer Menschen) an der Innerlichkeit jedes subjektiven Erlebens, die jedes Äußere zu einem Inneren machte. Wir erkannten, dass eine äußerliche Innenwelt wie eine innerlich vorgestellte Außenwelt subjektive Setzungen sind, die an der Realität scheitern. Wer seinem Sohn den Hintern versohlt, handelt politisch; wer Kindern in Not ehrenamtlich hilft, handelt privat. Das Erste war jedoch bloß eine Analogie, um das wichtigere Zweite verständlicher zu machen: es gibt nur Pflichten gegenüber sich selbst, weil ich selbst meine Welt bin, - verneine ich meine ethischen Pflichten, negiere ich mich selbst und reiße meine eigene Welt ein.