Freitag, 16. Februar 2018
Der Mystiker
Seit dem Sommer 2015 lese ich Rilke. Rainer Maria Rilke nimmt eine herausragende Stellung in der Lyrik ein, was sich an Folgendem verdeutlicht: wenn ich etwa Hesses "Im Nebel" lese, dann tauche ich in die Einsamkeit des Dichters ein und spüre den Nebel des Uneigentlichen, der mich von meinen Mitmenschen trennt, - ich verstehe Hesse. Wenn ich Rilkes "Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden..." lese, dann versteht Rilke mich. Es ist nicht das einzige Gedicht, in dem er mit chirurgischer Präzision ausdrückt, wie ich mich fühle. Im Großen und Ganzen bin ich des Lebens müde, der Welt überdrüssig, und von den Menschen enttäuscht. Warum lebe ich denn noch? An parareligiösen Unsinn, der den Suizid verbietet, glaube ich nicht. Rilke beantwortet diese Frage für mich:
Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)
Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)
Bin dein Gewand und dein Gewerbe,
mit mir verlierst du deinen Sinn.
Nach mir hast du kein Haus, darin
dich Worte, nah und warm, begrüßen.
Es fällt von deinen müden Füßen
die Samtsandale, die ich bin.
Dein großer Mantel lässt dich los.
Dein Blick, den ich mit meiner Wange
warm, wie mit einem Pfühl, empfange,
wird kommen, wird mich suchen, lange -
und legt beim Sonnenuntergange
sich fremden Steinen in den Schoß.
Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange.
Rilke spricht nicht vom Größenwahn, sondern von der Liebe. Gott ist nicht existent, sein Sein ist nicht gegenständlich. Wenn ich nicht liebe, kann sich die Liebe Gottes nicht äußern. In meiner Liebe spiegelt sich Gott, - in meiner Zärtlichkeit für das Kleine in der Natur, in meinem Schulterschluss mit dem Erhabenen der Gewalten, in meinem tiefen Mitgefühl für das individuelle Schicksal und in meiner offenen Verehrung des Schönen im Menschen.
Natürlich kann Gott das All auch zerbersten lassen. Seine Allmacht enthält auch die Macht zum Bösen, - und auch die, wie seine Macht zum Guten, können wir Menschen an uns reißen. Der tiefe Mensch vollbringt das Gute erhabener und das Böse schöner. Ich kann auch Ragnar sein, oder Dschingis Khan; nur der gemeine Verbrecher, der kleine verzweifelte Amokläufer, der bin ich nicht. Der tiefe Mensch kann nicht gottlos wirken; nichts, was er tut, ist bedeutungslos. Was wäre aber Gott ohne den tiefen Menschen? Was würde er tun, wenn er sich "fremden Steinen in den Schoß" legen, mit Krämerseelen Vorlieb nehmen müsste?