Mittwoch, 21. Februar 2018

Schicksal und Negativität





Die antike Welt war eine heteronome: fremdbestimmt (von den Göttern) hatte jeder Mensch sein Schicksal äußerlich auferlegt bekommen. Das Äußere war die Positivität, das Individuum konnte sich dazu nur negierend verhalten: indem es gegen sein Schicksal kämpfte oder indem es sein Schicksal annahm und somit die Äußerlichkeit der Schicksalsbestimmungen negierte, und diese zu seinen eigenen machte. Diese zweite Art der Negation - Verinnerlichung durch Affirmation - enthielt bereits den Keim des neuzeitlichen Denkens.

In der Neuzeit wurde das Innere als das Positive aufgefasst: der gute Wille, das Gewissen, die Gesinnung im Widerstreit gegen eine seelenlose determinierte Weltmaschine. Der Tod der äußeren Welt (als einen göttlichen Zusammenhangs) war die Voraussetzung für das Leben der inneren. Dies führte zur Atomisierung der Individuen, und an die Stelle sittlicher Bestimmungen traten automatisierte gesellschaftliche Zusammenhänge. Und wer nicht faul war, erklärte Gott für tot.

Der Preis der Selbstbestimmung der Person scheint die Negation der Außenwelt zu sein: in erkenntnistheoretischer Hinsicht (Solipsismus), in praktisch-moralischer Rücksicht (rigorose Gesinnungsethik) und in praktisch-poietischer Absicht (Behandlung der Natur als einen leblosen Mechanismus). Der Preis der Integration in eine als positive Realität anerkannte Außenwelt scheint die Reduktion der eigenen Persönlichkeit auf eine bloße Funktion zu sein: das Ich als einfache Negation, als substanzlose zufällige Existenz.

Da das Ich als Bewusstsein des Selbstbewusstseins unhintergehbar ist, gibt es nur einen möglichen Anfang: vom Individuum her. Der Einzelne ist das allerrealste Wesen, das Individuum ist das Positive, die Außenwelt zunächst das Negative. Die Welt ist vom Ich her zu denken, kann aber keine bloße Projektion der Negativität sein (kein bloßes Nicht-Ich). Es gibt nur einen möglichen Anfang, aber viele Wege. Solange das Ziel unbestimmt bleibt (das Weltganze ist eine abstrakte Bestimmung und kein positives Ziel), kann der richtige Weg nicht gefunden werden.


Freitag, 16. Februar 2018

Der Mystiker





Seit dem Sommer 2015 lese ich Rilke. Rainer Maria Rilke nimmt eine herausragende Stellung in der Lyrik ein, was sich an Folgendem verdeutlicht: wenn ich etwa Hesses "Im Nebel" lese, dann tauche ich in die Einsamkeit des Dichters ein und spüre den Nebel des Uneigentlichen, der mich von meinen Mitmenschen trennt, - ich verstehe Hesse. Wenn ich Rilkes "Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden..." lese, dann versteht Rilke mich. Es ist nicht das einzige Gedicht, in dem er mit chirurgischer Präzision ausdrückt, wie ich mich fühle. Im Großen und Ganzen bin ich des Lebens müde, der Welt überdrüssig, und von den Menschen enttäuscht. Warum lebe ich denn noch? An parareligiösen Unsinn, der den Suizid verbietet, glaube ich nicht. Rilke beantwortet diese Frage für mich:


Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)
Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)

Bin dein Gewand und dein Gewerbe,
mit mir verlierst du deinen Sinn.

Nach mir hast du kein Haus, darin
dich Worte, nah und warm, begrüßen.
Es fällt von deinen müden Füßen
die Samtsandale, die ich bin.

Dein großer Mantel lässt dich los.
Dein Blick, den ich mit meiner Wange
warm, wie mit einem Pfühl, empfange,
wird kommen, wird mich suchen, lange -
und legt beim Sonnenuntergange
sich fremden Steinen in den Schoß.

Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange.



Rilke spricht nicht vom Größenwahn, sondern von der Liebe. Gott ist nicht existent, sein Sein ist nicht gegenständlich. Wenn ich nicht liebe, kann sich die Liebe Gottes nicht äußern. In meiner Liebe spiegelt sich Gott, - in meiner Zärtlichkeit für das Kleine in der Natur, in meinem Schulterschluss mit dem Erhabenen der Gewalten, in meinem tiefen Mitgefühl für das individuelle Schicksal und in meiner offenen Verehrung des Schönen im Menschen.

Natürlich kann Gott das All auch zerbersten lassen. Seine Allmacht enthält auch die Macht zum Bösen, - und auch die, wie seine Macht zum Guten, können wir Menschen an uns reißen. Der tiefe Mensch vollbringt das Gute erhabener und das Böse schöner. Ich kann auch Ragnar sein, oder Dschingis Khan; nur der gemeine Verbrecher, der kleine verzweifelte Amokläufer, der bin ich nicht.  Der tiefe Mensch kann nicht gottlos wirken; nichts, was er tut, ist bedeutungslos. Was wäre aber Gott ohne den tiefen Menschen? Was würde er tun, wenn er sich "fremden Steinen in den Schoß" legen, mit Krämerseelen Vorlieb nehmen müsste?

Montag, 12. Februar 2018

Wishmaster





Der Knecht meines Knechts ist nicht mein Knecht: der Todesfürchtige, der, für mich arbeitend, den Naturstoff beherrscht, sorgt für mein Überleben; ohne ihn bin ich seinem Knecht, der Natur, ausgeliefert. Wer bin ich? Ja, der im Kampf auf Leben und Tod Siegreiche, zum Herrn des Besiegten Gewordene, bin ich, so Hegel will, natürlich auch. Aber im wesentlichen Verhältnis, das sich nicht zwischen empirischen Personen, sondern zwischen reinen Potenzen entfaltet, bin ich der Logos. Mein Knecht ist der Mythos und schützt mich vor dem Zauber.
 

In meinem Reich des Lichts der Vernunft gilt das Prinzip von Begriff, Urteil und Schluss; ich gebiete durch meine logischen Naturgesetze über das Universum, bereite die Bühne des Geistes, auf der sich die Weltgeschichte, der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, vollzieht. Den Mythos habe ich besiegt, als ich ihm durch meine Logik den Spiegel vorhielt, in dem er sich als sich selbst widersprechend sah, wodurch er seine Macht verlor. Ich habe ihn bezwungen, jedoch nicht vernichtet, und euch Menschen immer davor gewarnt, den Mythos aus eurer Welt zu verbannen, sobald ihr die geistige Stufe des Logos erreicht. Habt ihr auf mich gehört?
 

Eine interessante Antwort auf diese Frage ist im Monolog der Expertin für die Kraft, die vor dem Mythos die Menschheit regierte, im Film "Wishmaster" (1997) zu finden. In Freddy´s New Nightmare" (1994) muss der böse Geist von einer Geschichte, einem Mythos gefangen genommen werden, damit er seine Macht über die Natur, aber nicht nur, verliert. Bis zu seiner Rettung durch den Mythos besteht der Schutz des kleinen Jungen in Rex, seinem Spielzeug-Tyrannosaurus, einem Talisman. Der Talisman schützt den Menschen vor dem Zauber, ist er aber zerstört, so gibt es keinen Schutz mehr. Der Zauber kann durch einen Talisman nur aufgehalten, aber nicht besiegt werden, weshalb letzten Endes nur ein Mythos, der den Zauber auffängt, den Menschen retten kann. Die seit Ripley stärkste Frau in einem Film, die kluge Alexandra, wünscht sich vom Wishmaster, dass der Arbeiter, der für den Unfall verantwortlich war, der zur Befreiung des Djinns führte, vor drei Tagen während seiner Arbeit nicht trinkt, und diese Geschichte - in zweierlei Bedeutung, als Erzählung wie als Historie - verschluckt den bösen Geist.

Seit Hegel wird die Welt des Geistes von der Totalität des Logos regiert. Seine Vorgänger, der Mythos und der Zauber, sind nicht im dialektischen Sinne aufgehoben - negiert und aufbewahrt zugleich - , sondern schlichtweg aus der Welt verbannt. Die Wunder Jesu werden entweder als von der Geistesgeschichte überholte Märchen aufgefasst, oder aber man sucht nach logischen Erklärungen für sie: selbstverständlich konnte Jesus auf dem Wasser laufen, er war bloß etwas schneller als Usain Bolt. Natürlich sind Mythen nicht logisch, und Wunder naturgesetzlich unmöglich, aber deshalb sind sie nicht absolut zu negieren, sondern nur im engen Bereich des Logos, der vorerst höchsten Schicht des menschlichen und menschheitlichen Geistes.

Was geschieht, wenn ein logisch denkender Mensch, ein homo faber, an einer Zwangsneurose erkrankt? Er wird von magischen Wesen verfolgt, und muss seltsame Rituale vollziehen, um diese zu vertreiben. Die Rituale sind, wie Talismane, nur augenblicklicher Schutz, und müssen immer aufs Neue wiederholt werden, werden immer komplizierter, je weiter die Krankheit fortschreitet, machen irgendwann ein normales Leben unmöglich, und führen unselten in die geschlossene Psychiatrie. Der Logos vermag nichts gegen den Zauber, wie der König das Land nicht bestellen kann. Ohne den Bauer wird der König verhungern, und ohne den Mythos wird der rationale Mensch einen Suizid begehen, wenn er die Tugend, die ihn einst zum König machte, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod, weiterhin beherzigt. Es wird kein Suizid aus Verzweiflung sein, sondern ein rationaler Schritt, ein Rückzug in den Tod vor einem übermächtigen, unbesiegbaren Feind. Gibt er sich vom Zauber geschlagen, entsteht ein Mythos seiner Versklavung, der nur durch einen Befreiungsmythos überwunden werden kann.

Samstag, 10. Februar 2018

Du sollst nicht





Die Sünde trennt uns von Gott. Die Sünde ist ein Graben, den wir selbst schaufeln, sobald wir auf die Welt kommen, - so hat beispielsweise ein kränkliches Kind, das in einer armen Familie geboren wird, mit dem ersten Atemzug gleich vor, Gottes Gebote zu übertreten. Wir sind schuld, dass die Welt so ist, wie sie ist, denn Gott hat uns eine perfekte Welt gegeben, und dazu noch die exakte Gebrauchsanweisung. Das ist der Schwachsinn, den man glauben muss, um das Sündengerede der Pfaffen ernst nehmen zu können.

Warum lassen wir uns davon beeindrucken, wenn jemand, der in exotischer Kleidung daher kommt, aber kein Exot ist, uns sagt, Gott hätte für die Selbstmörder die schlimmste Höllenstrafe vorgesehen? Warum fürchten wir uns vor jenseitiger Strafe, selbst wenn wir längst nicht mehr an den Gott unserer Kindheit glauben? Die Evolution hat es so eingerichtet, dass das Schlechte die Erinnerung viel stärker prägt, als das Gute, das wir erleben. Sonst hätten wir nicht überlebt: unsere Vorfahren hätten den herangeschlichenen Tiger am nächsten Tag vergessen, und wären am übernächsten Tag von ihm zerfleischt worden.

Eine rein naturalistische Auflösung eines psychomoralischen Rätsels kann nicht befriedigen. Stellen wir die Frage anders: warum sollen wir uns vor der Hölle fürchten? Um die dunklen Triebe an der kurzen Leine zu halten. Wenn ein Kindesmissbraucher sagt, es sei doch nicht so schlimm gewesen, dann schildert er nur seine Erfahrung: er hat dem Kind tatsächlich nicht weh getan, es nicht bedroht, nicht verletzt, nur gestreichelt, und sich selbst von Kinderhänden streicheln lassen. Dass dieses höllische Streicheln eine kindliche Seele tötet, erschließt sich ihm nicht. Kurz: wir sollten, verdammt nochmal, sehr vorsichtig sein. Eine Seele lässt sich nicht reparieren. Was für den Erwachsenen ein kleines Vergnügen ist, kann für das Kind ein großer Schmerz sein, den es ein Leben lang in die Welt hinaus tragen wird.

Wer sich selbst beherrschen kann, braucht keine Gebote, Gesetze oder Verbote. Doch bis sich einer beherrschen kann, muss er eine lange Persönlichkeitsentwicklung leisten. Das gelingt nicht jedem, um es mal stark zu untertreiben. Was sind aber dem reifen menschlichen Wesen Gebote wie "Du sollst nicht stehlen"? Sie sind äußerliche Willkür, nichts weiter. Manchmal muss man stehlen, um Leben zu retten. Manchmal muss man töten, um Unschuldige zu beschützen.

Was Sünde ist, weiß nur Gott. Wir versuchen es: Sünde ist aus freien Stücken verlorene Unschuld. Eine klare begriffliche Definition. Was für ein Wille steckt dahinter, wenn die Unschuld freiwillig preisgegeben wird? Ein Wille, der bereits gesündigt hat. Wer also nicht bereits der Sünde verfallen ist, kann nicht sündigen. Die Definition sprengt sich, es entsteht ein unendlicher Regress, wie immer, wenn man einen Vernunftbegriff mit dem Verstand fassen will. Für den Verstand kann Sünde nur dasjenige sein, was ein gewisser Kant als eine Verkehrung der Maxime des Willens bestimmt: wenn der kategorische Imperativ nicht der höchste Gebieter des Willens einer menschlichen Person ist, sondern selbstsüchtige Interessen über sich gestellt bekommt. Alles, was wir über die Sünde durch die unserem Verstande gemäße Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft wissen können, hat derselbe Kant im gleichnamigen Buch aufgezeigt. Der Rest ist bloße Spekulation. 


Mittwoch, 7. Februar 2018

Pflichten





"Es", so der mit 23 freitodgestorbene Wiener Philosoph Weininger, "gibt nur Pflichten gegen sich selbst". Welche Pflichten denn? Wäre ich ganz allein auf der Welt, welchen Sinn hätten noch Pflichten? Das Alleinaufderweltsein ist mitnichten eine bloß hypothetische Annahme, sondern die logische Konsequenz so gut wie aller psychologistischen und modernistischen "Philosophien". Doch selbst ein moderner Philosoph, Wittgenstein, hat seinen Kant gelesen: Der ethische Solipsismus Kants (Pflichterfüllung als Selbstzweck; der Glückseligkeit würdig werden, ohne sie in Aussicht gestellt zu bekommen) ist, weiß Wittgenstein, kein Egoismus, sondern eine Überschreitung der Grenzen der Privatsphäre durch eine absolut gesetzte Ethik, eine Ethik, die selbst in der Einsamkeit nicht sinnlos wird, und vor deren Forderung man sich auch mangels anderer Menschen oder in Ermangelung verwirklichungswürdiger Werte in der Welt nicht verstecken kann. Kant treibt es sogar absichtlich auf die solipsistische Spitze, und Wittgenstein weiß, warum: um zu zeigen, dass selbst in der absoluten Einsamkeit Ethik einen Sinn hat.

Ethik setzt Selbstzwecke voraus. Bin ich mir ein Selbstzweck, so habe ich mir selbst gegenüber Pflichten. Das ist aber so abstrakt, banal und einsichtig, dass es erst komplizierter gemacht werden muss, um begriffen zu werden. Gegeben sei ein Familienvater, der die absolute Privatsphäre für sein Haus beansprucht: sein Privatleben, in welches auch seine Kinder hinein gehören, gehe die Öffentlichkeit nichts an. So weit, so schuldig: deine Kinder sind nicht ein Teil von dir, sondern ein Teil der ungeliebten Öffentlichkeit, andere und souveräne Persönlichkeiten. Viele Eltern begehen (mal von Ungeheuerlichkeiten zu schweigen) täglich Freiheitsberaubung gegenüber ihren Kindern, indem sie ihre elterlichen Kompetenzen bei der Erziehung weit überschreiten, und in die Persönlichkeit des Kindes hineingreifen. Dass Kinder durch dieses Hineingreifen z.B. nicht verhungern, ist eine zynische Bemerkung, mit welcher die Hyäne aus dem Zyniker herausbellt, denn Zynismus gegenüber Wehrlosen ist feige, nicht lakonisch, und gehört bestraft nicht mit der Ohrfeige, vielmehr drakonisch. Der Selbstwiderspruch in der Sache ist aber: indem Eltern zu tief in die Persönlichkeit ihrer Kinder hineingreifen, verletzen sie ihrerseits eine Privatsphäre, womit sie ihr Recht auf Privatsphäre gegenüber der Öffentlichkeit verwirken.

Wir haben die äußeren Symptome des Gebrechens behandelt, nun zu den inneren Ursachen: man kann sich, so der gesunde Menschenverstand, nur gegenüber anderen Menschen ethisch verhalten. Seine eigene Wahrnehmungswelt tut aber niemand jemals verlassen; subjektiv ist der Solispsismus keine Denkoption, sondern ein Grundmodus des Welterlebens. Alles, was ich wahrnehme, verhält sich in einer bestimmen Weise zu mir; sein ist für mich dasselbe wie von mir wahrgenommen werden. Wenn nun all die Menschen da draußen von meiner Wahrnehmung abhängig sind, und sobald diese aussetzt (etwa mit meinem Tod), für mich nicht mehr existieren, sind sie subjektiv ein Teil von mir. Somit handle ich immer innerhalb meiner eigenen Wahrnehmungswelt, und es macht keinen Unterschied, ob bloß meine Wahrnehmung solipsistisch beschaffen ist, oder ob ich den philosophischen Solipsismus bewusst zu meiner Weltanschauung mache.

Im ersten Fall scheiterten wir daran, unsere Innenwelt (Privatsphäre) gegen das Außen abzugrenzen, weil diese Abgrenzung ihrerseits eine Grenzüberschreitung dem Inneren eines Anderen (des eigenen Kindes) gegenüber bedeutete. In zweiten Fall scheiterten wir bei der Zurückweisung eines vermeintlichen Äußeren (anderer Menschen) an der Innerlichkeit jedes subjektiven Erlebens, die jedes Äußere zu einem Inneren machte. Wir erkannten, dass eine äußerliche Innenwelt wie eine innerlich vorgestellte Außenwelt subjektive Setzungen sind, die an der Realität scheitern. Wer seinem Sohn den Hintern versohlt, handelt politisch; wer Kindern in Not ehrenamtlich hilft, handelt privat. Das Erste war jedoch bloß eine Analogie, um das wichtigere Zweite verständlicher zu machen: es gibt nur Pflichten gegenüber sich selbst, weil ich selbst meine Welt bin, - verneine ich meine ethischen Pflichten, negiere ich mich selbst und reiße meine eigene Welt ein.   

Freitag, 2. Februar 2018

Leiblichkeit und Transzendenz





Wie siehst du eigentlich wirklich aus? Dein Körper ist ein Zufallsprodukt, das viel mit dem Genpool deiner Eltern zu tun hat, aber nichts mit dir. Wie siehst du also wirklich aus? Wenn du ein Nichts-als bist, nichts als dein Körper, nichts als all die Umstände, die dein Dasein und Sosein determinieren, dann hat diese Frage für dich keinen Sinn. Aber sie hat objektiv einen Sinn. Nehmen wir einen Menschen, der durch äußere Umstände einige Körperteile verloren hat, aber immer noch lebt, und folglich eine Person ist, die eine persönliche Ich-Perspektive auf sich selbst hat. Vor dem Unfall war diese Person ein Mensch, und sah wie ein Mensch aus, - wer ist diese Person aber nun, wo sie keine Beine mehr hat und wo ihr ein Arm und ein Ohrläppchen fehlt? Ein neuartiges einarmiges Wesen ohne Beine? Mitnichten. Sie trägt Prothesen, weil sie "eigentlich" so aussieht, wie sie vor ihrem Unfall aussah.

Wir alle hatten einen Unfall: den genetischen Unfall unserer Eltern, als sie uns zeugten. Der Zufall und die Gene bestimmten über unser Aussehen. Wir sehen so oder so aus nicht weil wir uns so entschieden haben, sondern weil dies durch äußere Umstände für (oder gegen) uns so entschieden wurde. Nun gibt es schöne und nicht so schöne Menschen. Entspricht das Aussehen immer dem Charakter? Nein, es ist vielmehr immer zufällig, und steht in keinem Zusammenhang mit der Persönlichkeit eines Menschen. Wir sind nicht dazu verdammt, uns mit unserem Aussehen zu identifizieren, vielmehr können wir davon abstrahieren. Dabei bekommen wir zweierlei: einserseits das Wunschaussehen, auf welches wir keinen gerechten Anspruch haben können, und andererseits das Aussehen, das unserem Charakter wirklich entspräche. Es ist leider abzusehen, dass die zukünftigen Biotechnologien die erste, willkürliche Möglichkeit realisieren werden, - die zweite, gerechte Option müssen wir wohl, wie alle berechtigten Hoffnungen, die nur berechtigt sind und sonst nichts, ins Jenseits verlagern.

Oder gibt es eine Aussicht auf Schönheitsethik? Die zivilisierte Menschheit verrechtlicht zunehmend alle möglichen Verhältnisse, die Menschen werden dadurch aber nicht moralischer. Schade. Jedenfalls will ich, wenn ich in den Spiegel sehe, nicht das Produkt zufällig an mich weitergegebener Gene sehen, sondern ein Gesicht, das zu mir passt. Ich fühle mich nicht aus äußeren Gründen (etwa sozialer Perfektionierungsdruck usw.) unwohl in meinem Körper, - ich will vielmehr, dass mein Körper meine Seele zum Ausdruck bringt, doch nicht etwa damit andere sehen können, wie gut ich "eigentlich" aussehe. Nein, nur für mich. Nicht um - wie so viele Menschen anderen Geschlechts - den attraktiven Körper exhibitionistisch als Objekt der Begierde in der Öffentlichkeit zu präsentieren, um dann die selbst provozierten Blicke als Belästigung zu beklagen. Nein, ich bräuchte eigentlich zwei Körper: einen funktionalen, schlicht und unauffällig, männlich aussehenden, und den "eigentlichen", nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Körper, einen ewigjungen, androgynen, und von einer solchen Makellosigkeit in allen denkbaren Feinheiten, die für nur wenige wirklich vorstellbar ist.