Dienstag, 21. Juli 2020
Abendländische Machtkämpfe
15. Jahrhundert. Der chinesische Kaiser Yongle schickt kolossale Flotten in die Welt, die die kulturelle (das war ihnen am wichtigsten), militärische und wirtschaftliche Dominanz Chinas anerkennt. Chinas BSP war zu jener Zeit, wie schon während der Song-Dynastie, nicht nur absolut, sondern wohl auch pro Kopf höher als in reichsten Ländern Europas. Am Ende des Jahrhunderts schickt die spanische Krone schäbige Schiffe, deren Besatzungen durch Fehlkalkulation der Abstände fast verhungern, aber durch Zufall die Karibik entdecken. Portugiesen, die Afrika umsegeln, werden bestenfalls als Piraten betrachtet, keineswegs als Botschafter einer hochentwickelten und mächtigen Kultur.
Im 16. Jahrhundert ist Europa immer noch nicht fertig mit sich selbst. Auf den Religionsfrieden 1555 folgt der Machtkampf der machiavellisch-bodinschen Nationalstaaten, der 1648 entschieden wird. Als Religion siegt der Protestantismus (Atheismus bzw. die Ich-Religion in verstecker Form) gegen den Katholizismus (den alten Aberglauben), als Staat das frühmoderne cartesianische Frankreich gegen das spätmittelalterliche Spanien. Die hohe See erobern englische Piraten und holländische Händler, beides keine Bedrohung für niemanden, allenfalls für spanische Flotten und portugiesische Ostasien-Kaufleute. Die unmittelbaren Nachbarn sind mächtiger: die aufgeblasene litauische Zecke, die sich Polen einverleibt hat, und das riesige Osmanische Reich sind Kolosse für Europa und machbare Gegner für Ming-China und Mogul-Indien.
Der mitteleuropäische Bürgerkrieg springt auf die Insel über, erst 1688 ist Britannien befriedet und erst 1757, nach einem keineswegs überlegenen Sieg in Bengalen, durch Raub reich genug, um die industrielle Revolution zu finanzieren. Dieser Dusel-Sieg findet zur Zeit des ersten europäischen Weltkriegs statt (1756-1763), der um Ost- und Westindien geführt wird; England siegt auch in Nordamerika. Militärisch gibt das Land des Sonnenkönigs die Führung an das geschäftstüchtige England, kulturell an das zersplitterte Deutschland ab. Das antisystemische Element der abendländischen Zivilisation, Russland, fegt Polen-Litauen, Schweden und die Osmanen vom Platz und wird zum systeminternen Gegenpol erst Englands (The Great Game), dann der USA (Kalter Krieg).
Deutschlands Weg von der Kultur in die Dekadenz führt über Siege in Forschung, Entwicklung und Kriegskunst zu zwei gescheiterten Versuchen der Welteroberung. Damit ist entschieden, dass nicht Europa unter deutscher Führung, sondern die von Beginn an als titanisch-kybelisch konzipierten USA Britannien als Weltmacht beerben (mit dem genannten systeminternen Gegenpol). Das Abendland als Hochkultur ist dem Osten nie überlegen: die Unterwerfung Chinas geschieht im Zeitalter der Dekadenz und selbst die Aufteilung Afrikas findet erst kurz vor dem dritten europäischen Weltkrieg (1914-1918) statt. Seinen letzten Krieg in der Hochphase der Kultur führt Europa als seinen zweiten Weltkrieg, den napoleonischen Krieg, ein Jahrhundert zuvor.
Der Kampf der Titanen verursacht 1962 und 1983 fast einen nuklearen Weltuntergang; der tellurisch-demetrische Titan lenkt einmal auf „Der Klügere gibt nach“-Art ein, und einmal entscheidet sich ein russischer Soldat, auf einen Atomangriffsalarm nicht zu reagieren. Da Demeter nicht theomachisch-titanisch ist, gibt der russische Demetrios (Dmitrij, nicht Iwan: der archetypische Russe ist Sohn der Demeter) nach und löst sein Reich des Bösen auf. Das andere, Ulalume, scheint zu triumphieren, doch der kybelische Titan zerstört sich zunehmend selbst im Terrorismus-Wahn (ab 2001) und im kulturellen Nihilismus (die unmittelbare Gegenwart). Die abendländische Zivilisation hat die Welt nicht ritterlich erobert, sondern krokodilesk verschlungen und nicht verdaut. Der Rest der Welt wird sich vom Westen der Welt nicht in einem klassischen Machtkampf befreien, sondern das Krokodil von Innen zerreißen und nicht viel übrig lassen.