Mittwoch, 27. Mai 2020
Der Übermensch
Nietzsches Ich-Phantasie vom Übermenschen handelt im Grunde von der Wiederaufstehung des Gottes der Ich-Religion: das Ich, der tote Gott, soll wie Osiris, Dionysos und Jesus zum ewigen Leben wiederauferstehen. Der Übermensch, der wiederauferstandene Ich-Gott, würde die volle Kontrolle über seine Triebe und Neigungen behalten und mächtiger Herr über das eigene Un- und Unterbewusste sein.
Der Wille zur Macht ist der Wille des Ichs zur Selbstbehauptung. Je größer die Macht, umso stärkere Feinde werden besiegbar, gipfelnd mit dem stärksten Feind des Ich, dem Unter- und Unbewussten. Dann hat der Wille die Kontrolle über den Körper und es entsteht der athletische asketische heroische Über-Mensch. Die atheistische Anthropologie bestimmt den Menschen implizit als ein Wesen mit einem Ich: das Ich ist das Wesen des Menschen. Doch das Wesen des Übermenschen ist nicht das Über-Ich: je mehr das Un- und Unterbewusste herrscht, umso stärker wird die äußere Herrschaft des Über-Ich über das Ich, welches sich notgedrungen unter die Herrschaft der Normen, der Sitten, des Gewissens, oder auch nur der gesellschaftlich ausgeübten Gewalt fügt, um von seinem inneren triebhaften Tyrann nicht zerstört zu werden.
Der Übermensch aber ist so stark, dass er ohne ein Über-Ich sein Unter- und Unbewusstes beherrschen kann. Der Über-Mensch braucht keinen guten Hirten, weil er gar keinen Hirten braucht. Die Nazi-Ideologie sah im Über-Ich nicht den guten Hirten, sondern das schädliche Gewissen, das die barbarische Vitalkraft des Menschen an ihrer Entfaltung hinderte. Hitler sah im hochmoralischen edlen Dschingis Khan nur den barbarischen skrupellosen Zerstörer, wo dieser in Wirklichkeit der Gesetzgeber in einem Zustand der Anarchie und der Gründer des legendären Mongolischen Friedens (pax mongolica) war.
Das vom Über-Ich losgelöste Ich, dass das Unter- und Unbewusste nicht beherrscht, sondern sich von dessen Triebhaftigkeit treiben lässt, ist nach Nietzsches Logik nicht der Über-, sondern der Unter-Mensch. Diese Bestie wurde zum Desiderat der barbarischen Ideologie der Nationalsozialisten, dieses Monstrum der heteronomen getriebenen Kraft. So wurde Nietzsches Idee vom Übermenschen durch die Nazis nicht bloß missverstanden, sondern ins Gegenteil verdreht.