Freitag, 15. Mai 2020

Das Gute als Existenzberechtigung





Wer gut sein will, hat es schwer: ständig wird er auf kleinste Verfehlungen hin kritisiert, unter Rechtfertigungsdruck gestellt und auf seine „eigentlichen“ Motive hin gaslightet. Versucht er, das Messen mit zweierlei Maß zu unterbinden, erwidert sein Kritiker: „Ich halte mich selbst gar nicht für gut, also muss ich nicht denselben Ansprüchen gerecht werden wie du“. Da glaubt er, fein raus zu sein, und ist dabei so grob raus, wie man nur sein kann, nämlich raus aus der Existenzberechtigung.

Das Gute ist das, was sein soll. Wer gut sein will, tut es nicht, um anderen zu gefallen, sondern aus Pflicht (andernfalls will er nicht gut sein, sondern nur gut scheinen). Die Pflicht, gut zu sein, erwächst aus dem Recht, zu sein. Nur das Gute hat ein bedingungsloses Existenzrecht. Wer nicht durch seine Natur gut ist (ein Engel), sondern sich fortwährend frei zwischen Gut und Böse entscheiden muss (das ist die conditio humana), verdient sein Daseinsrecht erst durch die Willensanstrengung, gut zu werden.

Die Existenz des menschlichen Subjekts ist ontologisch prekär. Von der Objektseite ist der Mensch ein Tier, von der Subjektseite ein Ebenbild Gottes. Das selbst-bewusste Subjekt hat eine innere Teleologie mit dem Endziel Glückseligkeit. Damit hat der Mensch das Recht, sich selbst für einen Endzweck zu halten. Daraus resultiert die Pflicht, mit der Kraft des Willens das Gute anzustreben.

Wer gar nicht den Anspruch hat, gut zu sein, hat auch keine Würde, denn nur ein Endzweck, ein absoluter Selbstzweck hat Würde. Der Mensch als Tier ist nur ein relativer Selbstzweck, aber vielmehr das Mittel der Selbsterhaltung für seine Gattung/seine DNA. Er muss auch keinen moralischen Gesetzen gerecht werden, sondern nur seine Gene weitergeben.

Der dogmatische Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist nur dann wahr, wenn die Würde mit der moralischen Pflicht einhergeht: Die Pflicht zum Guten ist unantastbar, denn diese macht die Würde des Menschen aus. Wer aber, die Pflicht von sich weisend, sagt: „Ich halte mich gar nicht für einen guten Menschen“, mag sich in seinem Eigendünkel für cool und lässig halten, ist aber in Wahrheit nur ein Nichtswürdiger.