Dienstag, 12. Mai 2020
Der Shawshank-Sigma
Ein Mann jungen bis mittleren Alters kommt unschuldig lebenslänglich hinter Gittern: das kann eine allgemeine Metapher für die Geworfenheit in die Welt sein, aber auch eine besondere für z. B. ein toxisches Elternhaus, das das Leben nachhaltig vergiftet. Er ist introvertiert und wird in der neuen Lebenssituation sofort omegaisiert. Der feine Unterschied zwischen einem Außenseiter, als der er scheint, und einem Einzelgänger, der er eigentlich ist, deutet schon an, dass der Mann charakterlich ein Sigma ist.
Ein Sigma leugnet nicht die Hierarchie, er nimmt sie an, lebt und spielt damit. Auch ein omegaisierter Sigma entwickelt keine Ressentiments, sondern entwickelt sich zu einem „Mann des langen Willens“, wie die alten Mongolen sagten. Für den tyrannischen Gefängnischef nimmt er die Rolle des Gamma an, wäscht für ihn Geld, doch dabei baut er all die Jahre für sich selbst dort draußen eine Identität auf. Während seine Mitgefangenen darauf warten, dass er sich irgendwann umbringt, denkt er immer an Freiheit, nicht an den Tod. Durch seinen Charakter und seine sigma-souveränen, nicht gamma-manipulativen guten Taten wird er immer mehr zur lebenden Freiheitsstatue an einem Ort der Unfreiheit. Doch alle konkreten Pläne für seine Selbstbefreiung behält er für sich.
Auf einmal ist er weg, und keiner weiß, was passiert ist. Nur ein großes Loch in der Wand lässt die Kraft seines Willens erahnen: viele Jahre lang grub er heimlich einen Fluchtweg. Jeden Tag musste er damit rechnen, dass das Loch bei 10, 50, 90, 99% der getanen Arbeit bei einer Zimmerkontrolle doch noch entdeckt wird. Doch er führt seinen Plan konsequent zu Ende. Das ist die Art, auf die ein Sigma positiv denkt. Ein Gamma dagegen malt sich die Welt schön, lebt Lebenslügen, verzerrt seine Wirklichkeit, um „positiv denken“ zu können. Taten folgen dem positiven Denken eines Gamma nicht, es bleibt bei Hoffnungen und Absichten.
Dieser Film zeigt, dass der Sigma-Rang in der soziosexuellen Hierarchie nicht situativ oder fraktal eingenommen werden kann (in der Familie ein Alpha, auf der Arbeit ein Delta; in der Schule ein Omega, im Nerd-Freundeskreis ein Gamma usw.), sondern auf einer bestimmten charakterlichen Grundstruktur basiert. Nicht weil der Sigma es am schwersten hat, ist es am schwersten, ein Sigma zu sein, sondern weil der Sigma-Rang sehr voraussetzungsreich ist und einen festen Charakter, einen starken Willen und viel Persönlichkeitsentwicklung erfordert. Allein mit einem großen „Selbstbewusstsein“, das durch ein positives Elternhaus und überlegene genetische Ausstattung (physische Stärke, Intelligenz) zustande kommt, wird man mit großer Wahrscheinlichkeit ein Alpha oder Beta/Bravo, aber noch lange kein Sigma.