Donnerstag, 16. April 2020

Tathagatagarbha




Die Chinesen und Tibeter lernten den Buddhismus nicht als das ursprüngliche Theravada kennen, das eine soteriologische Negation des indischen Brahmanismus war, sondern als Mahayana, dessen Ziel nicht mehr die Erlöschung war. Der chinesische Chan- und der tibetische Vajrayana-Buddhismus setzen nicht auf den graduellen, stufenweisen Aufstieg zur Erleuchtung, sondern auf unmittelbare Erkenntnis. Die sofortige Erleuchtung im Chan (und dem daraus enstandenen japanischen Zen) und die unmittelbare Erkenntnis der Buddha-Natur im Dzogchen sind für den dekadenten Westler verführerisch, der ohne Beweise behaupten darf, die Erleuchtung erlangt und die Buddhaschaft erreicht zu haben. Mit solchen faulen Selbsterlösern aus dem Nihilismus der eigenen Bedeutungslosigkeit in den Nihilismus der narzisstischen Selbstimmanenz füllen sich die buddhistischen Zentren der westlichen Metropolen.

Für den wahren Buddhisten des Westens indes liegt die Faszination des Chan/Zen oder Dzogchen in der paradoxen Natur der Erleuchtung. Auf die Frage des Zen-Schülers, wann er endlich die Erleuchtung erreicht, kann der Meister nur mit „Nie“ antworten, denn der Weg zur Vollkommenheit kann nicht durch ein bestimmtes Zeitquantum bemessen werden. Und dennoch gibt es die Erleuchtung. Das bedeutet, dass sie nur erreicht werden kann, wenn man aufhört, in der Zeit danach zu streben. Wer strebt, verfehlt das Ziel. So kommt es auf das taoistische „Wu wei“, das Nichttun, hinaus. Die Koans des Zen-Meisters und der Unterricht des Dzogchen-Lamas sollen den Schüler eben nicht auf dem Weg zur Vollkommenheit anleiten, sondern nur dessen Geist befreien, ihn von allem leer machen, auch vom Streben nach Vollkommenheit.

Ohne die nihilistische Grundlage des Hinayana, sondern auf der Basis des nicht-seinsverneinenden und damit nichtseins-verneinenden Mahayana lässt sich mit dem Shan/Zen oder Dzogchen der spirituelle Materialismus, der dem Nihilismus der Erlöschung entgegengesetzte Pol, umgehen. Jeder Weg zur Erleuchtung, der über Stufen geht, führt letztlich dazu, dass das Zählen der Stufen mit dem Ziel selbst verwechselt wird. Die Stufen sind aber nur der Weg, und es ist egal, wie viele Geisteszustände bis zur Erleuchtung durchschritten werden müssen: man schafft es nicht, wenn man seinen spirituellen Fortschritt über die Höhe seines Geisteszustandes definiert, erstens, weil von jeder noch so hohen Stufe der Unvollkommenheit der Weg zur Vollkommenheit immer noch unendlich ist, und zweitens, weil je höher die Stufe, umso größer das Anhaften daran, und umso schwerer die Einsicht, dass trotz der vielen Jahre der Meditation die Vollkommenheit genauso weit weg ist wie am Anfang des Weges.