Montag, 4. Juli 2022

Der asketische Mann

 

 

 

Der asketische Mann steht, wie der dionysische, negativ zum Leben. Der dionysische Lebemann und der asketische Mönch sind hedonistisch, nicht idealistisch orientiert. Der phallische Mann ist fremdbestimmt-idealistisch (Sklave), der heroische Mann wählt zwar für sich selbst, aber noch einen äußeren Zweck (er ist somit altruistisch-idealistisch), und der apollinische Mann ist als seiender, nicht bloß sein sollender, Selbstzweck, selbstbestimmt-idealistisch.

Der dionysische Mann will das Leben genießen und scheitert an der Begrenztheit des Genusses sowie an dessen leidvollen Konsequenzen: Sex überträgt Krankheiten (die schwerste davon für den Hedonisten ist die Schwangerschaft der Frau), Alkoholrausch führt zum Kater, Völlerei macht dick. Alles Interessante wird mit der Zeit langweilig; die Zahl möglicher Genüsse sinkt im Laufe des Lebens, die Variation des Leidens nimmt zu.

Der asketische Mann ist ein negativer Hedonist: er will das Leid überwinden. Damit ist seine Negation des Lebens doppelt: er nimmt das Leid der Entsagung auf sich, aber nicht, um glücklicher zu leben, sondern, um letztlich nicht mehr zu leben. Der gemäßigte Asket ist Epikureer, dionysischer Mann, der auf solche Lust verzichtet, aus welcher Leid folgt.

Das Leben ist Leiden: das ist die letzte Wahrheit des Asketen. Er lebt es nach bestimmten Regeln in der Hoffnung, nicht mehr leben zu müssen, insofern er seine Prüfung besteht. Dabei kann der Prüfer sowohl persönlich (monotheistischer Gott) als auch unpersönlich (Dharma) vorgestellt werden. Das Karma ist ein negatives Konto, mit dem jedes Lebewesen geboren wird. Das Ziel ist die schwarze Null (Moksha/Nirwana). Der transzendente Herrscher des Universums ist als Garant des Deals "Ich leide, um nicht leiden zu müssen" ein Selbstwiderspruch.

Diesen Widerspruch entwickelt Kants Moralphilosophie. Kant ist ein moralischer Asket. Nicht nur, dass wir nach Kant dem moralischen Gesetz gemäß leben sollen, nein, wir sollen ausschließlich nach dem kategorischen Imperativ als Selbstzweck handeln. Indem der Mensch anerkennt, dass nicht er (bzw. das Leben), sondern das moralische Gesetz Selbstzweck ist, bekommt er die Würde, selbst ein Selbstzweck sein zu können. Dann aber hat er Anspruch auf Glückseligkeit. Und diese ist nicht einfach ein Erlöschen ins Nichts.

Der Zweck der moralischen Askese ist letztlich der Hedonismus: Glückseligkeit bedeutet nach Kant die Befriedigung aller Neigungen, und zwar extensiv, intensiv, und für immer. Und noch mehr: Glückseligkeit ist, wenn mir alles nach Wunsch und Willen geht. Was der moralische Asket anstrebt, ist letztlich der hinduistisch-buddhistische Götterbereich. Aber er darf das Paradies nicht als Zweck setzen: der Zweck der moralischen Askese ist die Würdigkeit, ins Paradies zu kommen.

Kants asketische Moralphilosophie perpetuiert das unglückliche Bewusstsein nach Hegel. Das Getrenntsein vom Absoluten, von der göttlichen Glückseligkeit, ist ein Zustand, der nicht eigenmächtig überwunden werden darf. Nur Gott, das personifizierte moralische Weltgesetz, darf den Asketen erlösen.

Scheinbar geht es beim kategorischen Imperativ um Würde, die dadurch verdient wird, dass man ausschließlich aus moralischer Pflicht handelt. Letztlich ist aber der vollständig befriedigte Hedonismus das Ziel. Ansonsten würde die Würde, wie bei den Stoikern, sich selbst genügen. Kant protestiert: Aber es muss wahr und real sein, dass es dem Guten letztlich wohl und dem Bösen übel ergeht; daran, bloß gut zu sein, kann ich mich nicht erfreuen, wenn ich sehe, dass in der Welt das Böse triumphiert!

Nun, warum nicht zum Helden werden, und das Böse aktiv bekämpfen? Oder, um in der Hierarchie der Männlichkeit nicht abzusteigen, halte es, wie der Stoiker: Du hoffst nicht auf eine jenseitige Glückseligkeit, du tust einfach das Gute, weil es gut ist, und keiner weiteren Gründe bedarf. Dem Bösen ergeht es wohl? Das ändert aber nichts daran, dass all das widerliche Gesindel eben nur Gesindel ist; du bist der höhere, wertvolle Mensch, und der Übeltäter ein ekelhafter Degenerat, der Wert deines Lebens ist der unendliche Wert deiner Würde, und der Verbrecher mit Koks, Nutten und Milliarden ist ein wertloser Untermensch. Reicht es dir nicht, dass das wahr ist? Du hast seinen weltlichen Erfolg nicht, er hat deine Würde nicht. Warum willst du auch das haben, was er hat? Ist die Würde also doch nichts weiter als eine leere Floskel, wenn aus ihr nicht die Berechtigung zu sinnlicher Lust folgt?

Das Leben in der Negation scheitert an der Positivität des Lebens. Das sah Hegel so klar, dass seine Kantkritik seitdem der Schlusspunkt der Moralphilosophie ist: Moral hat nur noch gesellschaftliche, aber keine existentielle Relevanz. Moralität geht über in die Sittlichkeit, und der moralische Asket hat die Wahl: entweder er besteht auf seiner subjektiven Moral und wendet sich damit gegen die Welt und das Leben, oder er verwirklicht die Askese im Stoizismus oder Theravada-Buddhismus. Tertium jedoch durchaus datur: Die Aufgabe der moralischen Selbstgerechtigkeit und die Einsicht in den wahren Selbstzweck, das Schöne, macht aus einem asketischen Mann einen apollinischen.