Sonntag, 13. September 2020

Das Tausendjährige Reich

 

 

 

Das Tausendjährige Reich des Herrn begann in der Krise des 3. Jahrhunderts. Gott, figurativ gesprochen, sandte die Cyprianische Pest, und konnte es dicker nicht auftragen: es war wahrscheinlich Marburg, jedenfalls ein Filovirus. Aus der Krise des 3. Jahrhunderts erstand kein spätantikes Imperium Romanum, sondern ein christlich-mittelalterliches „oströmisches“ Reich. Das späte 3. und das ganze 4. Jahrhundert hindurch steigt das Christentum aus seiner marginalen Existenz zur Dominanz auf. In Indien derweil scheitert der Buddhismus: da alle fremden Eroberer der letzten Jahrunderte Buddhisten waren, wird Buddhismus mit Fremdherrschaft assoziiert und abgestoßen. Das klassische hinduistische Gupta-Reich begründet ein goldenes Zeitalter Indiens, vergleichbar mit dem goldenen christlichen Frühmittelalter von Konstantin bis Justinian.

Der Gott der Christen schenkt also nicht nur Europa, sondern der ganzen indoarischen Rasse eine geile Zeit. Doch dann zürnt er wieder: 541 ist es ihre Majestät Yersinia Pestis höchstpersönlich, die aufräumt. Der oströmische Katechon übernimmt sich, das dritte goldene Reich des magischen Zeitalters, das persische Sassanidenreich (wiederum zur eigenen klassischen Religion zurückgekehrt: dem Zoroastrismus), scheitert ebenfalls. Das Machtvakuum füllt der neugegründete Islam, der von Iberien bis zum Indus die Herrschaft übernimmt. Zeitgleich steigt das mächtige Tang-Reich in China auf: das sind die wahren Big Players des Mittelalters, nicht die ersten Drei. Ein Gott, unbeständig wie das Wetter, und letztlich hat die unbesiegbare Sonne doch nur die Gebete erhört; die Menschen waren noch nie vorsichtig damit, wofür sie beteten.

Die 200-jährige biologische Dominanz des Pestbakteriums endet zeitgleich mit dem Omijjaden-Kalifat und der eigentlichen Tang-Dynastie, die nach der An-Lushan-Rebellion nie wieder zu alter Größe zurückfindet. Ab jetzt laden die Tang-Kaiser Uiguren ein, um chinainterne Aufstände zu unterdrücken, nebenbei plündern die Gäste die chinesischen Großstädte. Schließlich zerstören die Kirgisen das Uigurenreich, gründen aber kein eigenes. Ach ja, und der dritte Big Player neben den Tang und den Omijjaden? Natürlich die Göktürken. Um 750 hört man auch von denen nichts mehr. Die dritte Phase des Mittelalters beginnt. Die Geheime Geschichte der Mongolen lässt die Khalkha-Mongolen, das Volk Temudschins, von der mythischen Figur Bodoncar abstammen: die große Krise des 10. Jahrhunderts hat in der Welt der Nomaden sogar die Erinnerungen an die früheren Reiche getilgt. Xiongnu? Göktürken? Nie gehört. Aber die Oghusen machen sich schon auf den Weg und in einem der sprichwörtlichsten Niemandsländer der Welt, dem Territorium zwischen dem Kaspischen Meer und dem Aralsee Zwischenstation.

Die Merowinger als eurasisches Spielzeuggroßreich der ersten Phase werden von dem etwas weniger niedlichen Karolingerreich abgelöst, die dritte Phase gehört nicht den Kapetingern, sondern dem großen Basileus von Konstantinopel und dem kleinen Otto dem Großen von Sachsen. In der vierten Phase entsteht erst die westeuropäische Zivilisation des Mittelalters: die großartigen Kathedralen in Frankreich und Flandern, das Angevinische Reich, die Tigerstaaten des iberischen Christianismus. Die treibende Kraft der vierten Phase in Europa sind die Normannen: als England im Westen und Kiewer Rus im Osten nehmen sie Europa in die Zange. Die militärische Schwäche und kulturelle Glanzzeit Chinas während der Song-Dynastie fällt in ebendiese Zeit. Auch wirtschaftlich ist das wehrlose China ein Gigant. Indien zerfällt in in der Regel drei über den Subkontinent herrschende mittelgroße Reiche, bis die Ghuriden die Dekadenzzeit des Hinduismus beenden und die islamische Fremdherrschaft in Indien etablieren. Die islamische Welt selbst zerfällt sukzessive ab dem frühen 8. Jahrhundert, der Islam als wichtigste Religion des magischen Zeitalters gewinnt indessen die Oghusen und andere Turkvölker, die der Welt des Islam zwar nicht die Einheit, aber die militärische Dominanz zurückbringen. Die Kreuzzüge scheitern. Chinas wirtschaftlich-kulturelle Arroganz scheitert. Die Eroberung Nordchinas durch die Jurchen erweist sich als Blauphase für den Untergang Chinas.

Das christliche Mittelalter ist welthistorisch ein östlich dominiertes Zeitalter, das mit den großen drei Kaisern Aurelian, Diokletian und Konstantin beginnt und mit dem Untergang der globalen mittelalterlichen Welt im 13. Jahrhundert endet. Die Pest des 14. Jahrhunderts räumt nur noch auf, die Zerstörung ist zu diesem Zeitpunkt schon geschehen. Da es eine Zeit der Schwäche für Europa ist, da im Westen kein Großreich das große Römerreich beerbt, wird die antike Tradition nicht zerstört, sondern als dem magischen Zeitalter überlegen weitergeführt. Daran kann der Humanismus des 14. Jahrhunderts anknüpfen. Das 1000-jährige Reich des christlichen Mittelalters war also ein Urlaub Europas von der Geschichte. Gut erholt kommt es schließlich zurück und erobert die Welt.   


Das Mittelalter

Phase 1: Magische Goldene Zeit
Mitte des 3. Jh. bis Mitte des 6. Jh.
Großreiche: Oströmisches Reich, Sassanidenreich, Gupta-Reich
Religiöse Dominanz: Christentum, Zoroastrismus, Hinduismus

Phase 2: Das sogenannte Frühmittelater
Mitte des 6. Jh. bis Mitte des 8. Jh.
Großreiche: Omijjaden-Kalifat, Tang-China, Göktürken-Großkhanat
Religiöse Dominanz: Islam, Buddhismus

Phase 3: Die Krise des Mittelalters
Mitte des 8. Jh. bis Mitte/Ende des 11. Jh.
Großreiche: keine; vielleicht Ostrom unter der Makedonischen Dynastie
Religiöse Dominanz: keine, stattdessen interne Kämpfe 

Phase 4: Hochmittelalter
1066 oder 1071 oder 1095 bis Mitte des 13. Jh.
Großreiche: keine; viele mittelgroße Reiche wie in Phase 3
Religiöse Dominanz: keine, dafür Religionskriege (Kreuzzüge)