Mittwoch, 23. September 2020

Barock

 

 

 

War die Renaissance die Wiederkehr der klassischen Antike, so war die Reformation die Wiederkehr der christlichen Spätantike. Kaiser Theodosius besiegte am Frigidus das unchristliche Heidentum, die frigide Zeit Luthers und Calvins besiegte das humanistische Christentum. Die Renaissance-These, in vollem Ernst zu behaupten, der Mensch sei das Maß aller Dinge (nicht nur zum Spiel wie einer der antiken Sophisten), gechallengt durch die Antithese „Alles ist eitel“ ergab die Neuzeit im engeren Sinne: das Barock.

Barock war die Behauptung Giordano Brunos, das Weltall sei unendlich. Barock waren der Hamlet Shakespeares und die Sonette Greifs. Am Barocksten war der Neuanfang der Philosophie durch Descartes. Da schlug die Stunde der Neuzeit und begann das Zeitalter der Neuanfänger: es gab keine Philosophie vor Leibnizens Monadologie, nein, es gab keine wahre Philosophie vor Kants Kritik der reinen Vernunft, nein, alles war nur Vorgeplänkel bis zu Fichtes Wissenschaftslehre! Physik, die kleine Schwester der erhabenen Metaphysik, wurde zur selbstständigen Wissenschaft. Naturforscher entdeckten die Welt neu. Das flachere, extrovertierte Pendant waren die Entdeckungsreisen.

Die klassische Musik schlechthin, das sind Bach, Händel und Vivaldi, und Pachelbel, musse nicht vergesse, Pachelbel. Die der abendländischen Kultur der Neuzeit eigentümliche Kunst ist die Musik. Da ist die Kultur des Atheismus bzw. Humanismus bzw. Szientismus besser als alle anderen. Ihre Musik macht diese Kultur einzigartig. Alles andere beeindruckt viel weniger. Kein Werk Shakespeares „zieht“ so wie Elektra oder Antigone des Sophokles. Die bildende und bildhauende Kunst sind „okay“. 

Der Stachel des „Alles ist eitel“ durchbohrt unentwegt die barocke Selbstgefälligkeit. Savonarola ist im Blut, Calvin in den Nerven. Der Mensch ist sterblich und als Individuum am sterblichsten. Das sensible, todesfürchtige und -besessene, lebens- und erlebnishungrige originelle Ich betritt im neuzeitlichen Barock die Bühne der Weltgeschichte, und weiß es: Die Welt ist eine Bühne.

Montag, 21. September 2020

Philipp II gegen die Zeit

 

 

Intrigant, Lebemann und Taugenichts, Sohn des eigentlich Herrn der Welt, Philipps II von Spanien, stirbt Don Carlos 1568 und inspiriert zwei Jahrhunderte später Schiller zu seinem berühmten Drama. Die Stimme der Vernunft mahnt, der König des universal herrschenden katholischen Spaniens soll zwar mit Gewalt um den universalkatholischen Frieden kämpfen, aber nicht um den Preis des Friedens eines Friedhofs. Der arrogante Herzog Alba führt sich sehr standesgemäß in Flandern auf, doch hat keinen Erfolg. Spanien überdehnt seine Kräfte über den ganzen Globus und ist mehrmals pleite. Der alte König stirbt in Qualen nach langem Leiden an diversen Krankheiten. Und doch war die Vergeblichkeit das Traurigste daran. Der große Maler El Greco lebt und malt zu ebendieser Zeit. Das lebesbejahende Zeitalter des Barocks wurzelt auf den Gipfeln der katholischen Melancholie.

Auf den Resignationsdefätisten Montaigne folgt der Neuanfänger Descartes, sekundiert von lebemännisch-lebensklugem La Rochefoucauld. Frankreich übernimmt die Führung, die Spanien verloren hat. Aber hatte das große Reich des fundamentalistischen Christianismus überhaupt eine Chance? Philipp II herrschte von 1556 bis 1598, sein diokletianesk unheimlicher Vater, der legendäre Karl V, dankte vor seinem Tode noch ab, und teilte Spanien und das HRR unter den Söhnen Philipp und Ferdinand. Schon zu diesem Zeitpunkt war Philipp nicht der Eine, sondern einer von zwei: zwei Habsburgern. Die Dynastie wird geteilt bleiben; die spanischen Habsburger verlieren, die österreichischen gewinnen an Bedeutung, die Gesamtmacht der Familie sinkt.

Und wer waren Philipps Zeitgenossen? Seine Besiegerin Elisabeth I von England, eindeutig bedeutendere Königin. Iwan dem Bedrohlichen von Russland war sie nicht hochgestellt genug, er soll sie als Braut verschmäht haben. John Dee, der Zeitgenosse, der den Ausdruck "Britisches Empire" prägte, war nicht begeistert. Er träumte von einem 360-Grad-Reich am oberen Ende der Nordhemisphäre. Süleyman der Gesetzgeber war Philipps Zeitgenosse, ein größerer König mit einem mächtigeren Reich. Die Osmanen wurden 1571 bei Lepanto besiegt, was für sie aber kein spanisches 1588 war. Frankreich hatte Fieber, kämpfte Bürgerkrieg für Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Hugenotten, und war dennoch nie zu schwach, um Spanien in Schach zu halten. Im Dreißigjährigen Krieg zeigte es, wer auf dem Kontinent der Boss war. Das ferne Ming-China bemerkte die großen Habsburger nur als Randnotiz, und Indien? Ladies and Gentlemen, Jalaluddin Muhammad Akbar, der größte Herrscher seiner Zeit. Kam im selben Jahr wie Philipp II auf den Thron und regierte bis 1605, da war sogar Elisabeth schon eine tote Frau. Der Großmogul des Mogulreichs regierte zur Entstehungszeit Don Quijotes das reichste und mächtigste Land der Welt.

Sonntag, 13. September 2020

Das Tausendjährige Reich

 

 

 

Das Tausendjährige Reich des Herrn begann in der Krise des 3. Jahrhunderts. Gott, figurativ gesprochen, sandte die Cyprianische Pest, und konnte es dicker nicht auftragen: es war wahrscheinlich Marburg, jedenfalls ein Filovirus. Aus der Krise des 3. Jahrhunderts erstand kein spätantikes Imperium Romanum, sondern ein christlich-mittelalterliches „oströmisches“ Reich. Das späte 3. und das ganze 4. Jahrhundert hindurch steigt das Christentum aus seiner marginalen Existenz zur Dominanz auf. In Indien derweil scheitert der Buddhismus: da alle fremden Eroberer der letzten Jahrunderte Buddhisten waren, wird Buddhismus mit Fremdherrschaft assoziiert und abgestoßen. Das klassische hinduistische Gupta-Reich begründet ein goldenes Zeitalter Indiens, vergleichbar mit dem goldenen christlichen Frühmittelalter von Konstantin bis Justinian.

Der Gott der Christen schenkt also nicht nur Europa, sondern der ganzen indoarischen Rasse eine geile Zeit. Doch dann zürnt er wieder: 541 ist es ihre Majestät Yersinia Pestis höchstpersönlich, die aufräumt. Der oströmische Katechon übernimmt sich, das dritte goldene Reich des magischen Zeitalters, das persische Sassanidenreich (wiederum zur eigenen klassischen Religion zurückgekehrt: dem Zoroastrismus), scheitert ebenfalls. Das Machtvakuum füllt der neugegründete Islam, der von Iberien bis zum Indus die Herrschaft übernimmt. Zeitgleich steigt das mächtige Tang-Reich in China auf: das sind die wahren Big Players des Mittelalters, nicht die ersten Drei. Ein Gott, unbeständig wie das Wetter, und letztlich hat die unbesiegbare Sonne doch nur die Gebete erhört; die Menschen waren noch nie vorsichtig damit, wofür sie beteten.

Die 200-jährige biologische Dominanz des Pestbakteriums endet zeitgleich mit dem Omijjaden-Kalifat und der eigentlichen Tang-Dynastie, die nach der An-Lushan-Rebellion nie wieder zu alter Größe zurückfindet. Ab jetzt laden die Tang-Kaiser Uiguren ein, um chinainterne Aufstände zu unterdrücken, nebenbei plündern die Gäste die chinesischen Großstädte. Schließlich zerstören die Kirgisen das Uigurenreich, gründen aber kein eigenes. Ach ja, und der dritte Big Player neben den Tang und den Omijjaden? Natürlich die Göktürken. Um 750 hört man auch von denen nichts mehr. Die dritte Phase des Mittelalters beginnt. Die Geheime Geschichte der Mongolen lässt die Khalkha-Mongolen, das Volk Temudschins, von der mythischen Figur Bodoncar abstammen: die große Krise des 10. Jahrhunderts hat in der Welt der Nomaden sogar die Erinnerungen an die früheren Reiche getilgt. Xiongnu? Göktürken? Nie gehört. Aber die Oghusen machen sich schon auf den Weg und in einem der sprichwörtlichsten Niemandsländer der Welt, dem Territorium zwischen dem Kaspischen Meer und dem Aralsee Zwischenstation.

Die Merowinger als eurasisches Spielzeuggroßreich der ersten Phase werden von dem etwas weniger niedlichen Karolingerreich abgelöst, die dritte Phase gehört nicht den Kapetingern, sondern dem großen Basileus von Konstantinopel und dem kleinen Otto dem Großen von Sachsen. In der vierten Phase entsteht erst die westeuropäische Zivilisation des Mittelalters: die großartigen Kathedralen in Frankreich und Flandern, das Angevinische Reich, die Tigerstaaten des iberischen Christianismus. Die treibende Kraft der vierten Phase in Europa sind die Normannen: als England im Westen und Kiewer Rus im Osten nehmen sie Europa in die Zange. Die militärische Schwäche und kulturelle Glanzzeit Chinas während der Song-Dynastie fällt in ebendiese Zeit. Auch wirtschaftlich ist das wehrlose China ein Gigant. Indien zerfällt in in der Regel drei über den Subkontinent herrschende mittelgroße Reiche, bis die Ghuriden die Dekadenzzeit des Hinduismus beenden und die islamische Fremdherrschaft in Indien etablieren. Die islamische Welt selbst zerfällt sukzessive ab dem frühen 8. Jahrhundert, der Islam als wichtigste Religion des magischen Zeitalters gewinnt indessen die Oghusen und andere Turkvölker, die der Welt des Islam zwar nicht die Einheit, aber die militärische Dominanz zurückbringen. Die Kreuzzüge scheitern. Chinas wirtschaftlich-kulturelle Arroganz scheitert. Die Eroberung Nordchinas durch die Jurchen erweist sich als Blauphase für den Untergang Chinas.

Das christliche Mittelalter ist welthistorisch ein östlich dominiertes Zeitalter, das mit den großen drei Kaisern Aurelian, Diokletian und Konstantin beginnt und mit dem Untergang der globalen mittelalterlichen Welt im 13. Jahrhundert endet. Die Pest des 14. Jahrhunderts räumt nur noch auf, die Zerstörung ist zu diesem Zeitpunkt schon geschehen. Da es eine Zeit der Schwäche für Europa ist, da im Westen kein Großreich das große Römerreich beerbt, wird die antike Tradition nicht zerstört, sondern als dem magischen Zeitalter überlegen weitergeführt. Daran kann der Humanismus des 14. Jahrhunderts anknüpfen. Das 1000-jährige Reich des christlichen Mittelalters war also ein Urlaub Europas von der Geschichte. Gut erholt kommt es schließlich zurück und erobert die Welt.   


Das Mittelalter

Phase 1: Magische Goldene Zeit
Mitte des 3. Jh. bis Mitte des 6. Jh.
Großreiche: Oströmisches Reich, Sassanidenreich, Gupta-Reich
Religiöse Dominanz: Christentum, Zoroastrismus, Hinduismus

Phase 2: Das sogenannte Frühmittelater
Mitte des 6. Jh. bis Mitte des 8. Jh.
Großreiche: Omijjaden-Kalifat, Tang-China, Göktürken-Großkhanat
Religiöse Dominanz: Islam, Buddhismus

Phase 3: Die Krise des Mittelalters
Mitte des 8. Jh. bis Mitte/Ende des 11. Jh.
Großreiche: keine; vielleicht Ostrom unter der Makedonischen Dynastie
Religiöse Dominanz: keine, stattdessen interne Kämpfe 

Phase 4: Hochmittelalter
1066 oder 1071 oder 1095 bis Mitte des 13. Jh.
Großreiche: keine; viele mittelgroße Reiche wie in Phase 3
Religiöse Dominanz: keine, dafür Religionskriege (Kreuzzüge)