Freitag, 31. Juli 2020

Empathie und Verlogenheit im Kulturkampf





Im Kulturkampf um Begriffe wie N-Wort-Kuss oder M-Ohrenstraße beanspruchen die Befürworter der Sprechverbote und politisch korrekten Umbenennungen Empathie für sich. Dass lässt sie moralisch überlegen aussehen und sie fühlen sich als bessere Menschen. Aber Empathie hat ihren Preis. Echte Empathie lässt sich beim genauen Hinsehen von vorgetäuschter (gelogener) oder sich selbst fälschlich zugeschriebener (verlogener) Empathie unterscheiden.

Empathie trifft dich hart, du leidest mit. Empathie ist nicht selektiv, sie macht keine Unterschiede zwischen Schwarz und Weiß, Mann und Frau, Konservativ und Liberal, Reich oder Arm. Schadenfreude darüber, dass auch reiche Menschen sehr unglücklich sein können, lässt sich mit echter Empathie nicht vereinbaren. Mitgefühl mit alleinerziehenden Müttern und „I bathe in male tears“-Einstellung gegenüber Scheidungsvätern hat nichts mit wahrer Empathie zu tun.

Wahre Empathie ist lösungsorientiert, weil es nicht darum geht, sich durch das Mitfühlen gut zu fühlen. Der wirklich Empathische will wirklich helfen. Gutmenschen-Empathie will sich gut anhören und gut anfühlen. Verlogene Empathie empört sich, wahre Empathie sucht still nach Lösungen. Der politisch korrekte Gutmensch, der bestimmte Gruppen pauschal verteufelt und anderen Gruppen einen Heiligenschein ausstellt, hat keine Empathie. So handelt vielmehr ein Soziopath.

Im Kulturkampf um Begriffe wie N-Wort-Kuss oder M-Ohrenstraße beanspruchen die Gegner der Sprechverbote und politisch korrekten Umbenennungen das Recht auf ihre alten Gewohnheiten. Dass manche dieser Sprechgewohnheiten diskriminierend und verletzend sind, scheint sie nicht zu interessieren. Sie hören einfach nicht zu. Sind sie deswegen einfach nur schlechte Menschen. Eine Gegenfrage: Aber hört man denn ihnen zu?

Jemand, der den CSD prinzipiell unterstützt, und sagt: „Ich finde gut, dass Homosexuelle für ihre Rechte demonstrieren, aber müssen sie denn in Lack und Leder marschieren, müssen sie in der Öffentlichkeit sexuelle Praktiken zeigen, müssen meine Kinder das sehen?“, gilt im politisch korrekten Mainstream als Gegner im Kampf gegen Rechts. Ansatt eines „herrschaftsfreien Diskurses“ gibt es die linksliberale Deutungshoheit über alle kulturellen und gesellschaftlichen Fragen. Wer mit seiner Meinung dagegen verstößt, wird in seiner Ehre verletzt und in seiner Würde gekränkt, gilt sozial als Mensch zweiter Klasse und moralisch als minderwertig. Die Ausgrenzung und Diffamierung von Andersdenkenden und der moralische Furor, der mit echter Moralität nichts zu tun hat, haben ein Klima des Gleichgültigkeit und des Fuckyouismus geschaffen.

Jeder Schritt des Konservativen auf den linksliberalen Mainstream zu verpufft in der totalitären Forderung: Entweder du stimmst unserer Doktrin voll und ganz zu oder du bist rechts und damit ein Nazi. Dass viele Konservative (und sogar Zentristen) als Gegenreaktion tatsächlich nach Rechts rücken, ist die logische Konsequenz. Im letzten Jahrzehnt ist dementsprechend ein rechter Mainstream entstanden, der ebenfalls alles verdammt, was mit seiner Doktrin nicht voll übereinstimmt. Die Lehre ist: Einseitigkeit funktioniert nicht, weder in der Liebe noch in der Freundschaft noch in der Politik. Wer einen Neutralen oder gar Sympathisanten zu einseitigen Zugeständnissen zwingen will, befördert eine negative Gegenseitigkeit, nämlich Feindschaft.

Montag, 27. Juli 2020

Der goldene Preis





Wer kein Geld zum Leben hat, ist unglücklich. Das sage nicht ich, das sagen zahlreiche Studien. Die sagen aber auch, dass der Peak der Glücklichkeit bei einem hohen fünfstelligen Jahreseinkommen erreicht ist, danach wird man wieder unglücklicher. Der Geldbetrag auf dem Konto steigt, die Zufriedenheit fällt. Man erreicht schließlich ein „uncanny valley“, ein unheimliches Tal der Unzufriedenheit, und mit mehr Geld steigt wieder das Glücksempfinden.

Ein solider Millionär erreicht wiederum einen Gipfel der Reichseins-Zufriedenheit. Das Geld ist nicht mehr Geld, sondern bei diesen Beträgen das Äquivalent von Status. Doch auch hier gilt das Gesetz der Unzufriedenheit bei zu viel Geld. Madonna, Angelina Jolie, Leonardo di Caprio, Donald Trump: Künstler mit Top-Status und Businessleute mit einem dem Top-Status entsprechenden Geldäquivalent müssen sich unbedingt politisch austoben, im Ideallfall Staatschef werden. Warum?

Es gibt offenbar einen Geldbetrag, der zu hoch ist, um einfach nur reich zu sein, und es gibt eine Quantität von Ruhm bzw. einen Geldäquivalent von Ruhm, wo nicht mehr das Zuviel an Status, sondern das Zuwenig an Macht empfunden wird. Egal, wie Trump an sein Geld gekommen ist: es wurde so viel, dass es zu wenig wurde. Und er ist keine Ausnahme: überall auf der Welt tendieren Superreiche dazu, Staatschef werden zu wollen.

Es gibt, verlassen wir die Beobachtungsebene und steigen wir zum Theoretischen, einen chthonisch-tellurischen und einen lunaren Peak der Zufriedenheit mit Geld. Das Geld als Geld, als Mittel, Güter und Dienstleistungen zu erwerben, wird schnell genug. Der gemeine Mensch, der chthonische Tellurist, ist mit einem Jahreseinkommen von 80000 Euro voll zufrieden. Doch das Element des Lunaristen ist nicht Geld, sondern Ruhm. Darum ist der unbegabte Lunarist erst mit dem Geldäquivalent eines sozialen Top-Status zufrieden. Es geht nicht um den Reichtum an sich, sondern um die Fähigkeit zum Statuskonsum, um die Augenhöhe mit Reichen und Berühmten.

Der finanziell zu erfolgreiche Künstler geht in die gleiche Falle wie der zu wohlhabende bodenständige Bourgeois: das Geld, das er hat, ist nicht mehr nur Geld, bzw. der Status ist mehr als bloß Status. Ab einem bestimmten Geldbetrag bedeutet Status die Fähigkeit, politische Macht auszuüben. Der Superstar konzentriert sich nicht mehr auf seinen nächsten Film, sondern will die Welt retten, engagiert sich politisch, führt soziale und asoziale (shitstormische) Bewegungen an. Oder er wird gleich Chef seines Landes. Die erdverbunden-bodenständigen russischen Ölmilliardäre sind zu reich, um bloß reich zu sein; hat der Chthoniker sehr viel Geld, nimmt auch er politisch Einfluss und wird Oligarch.

Nun strebt der begabte Lunarist nicht nach der Hauptrolle im nächsten Blockbuster, um reich zu werden. Er will ein vortrefflicher Schauspieler sein; der Hauptpreis der Filmakademie ist das Symbol für verdienten künstlerischen Ruhm. Der politische Mensch verachtet Geld und Ruhm und strebt direkt nach Macht. Putins Kritiker behaupten, er hätte sich schon vor Jahren ein Vermögen zusammengeklaut, das ihn zu einem der reichsten Menschen der Welt macht. Das ist durchaus möglich: wer Macht hat, kann sich Geld einfach nehmen. Stalin lebte asketisch und hatte eine megalomanische Machtfülle. Auch dem Unbestechlichen, dem strahlenden Helden der Endphase der Französischen Revolution, war Geld egal. Diese Männer zahlten den eisernen Preis, nicht den goldenen.

In der 2. Staffel von Game of Thrones fragt der Piratenkönig seinen zurückgekehrten Sohn, wie dieser seinen teuren Umhang bezahlt hatte: „Hast du den eisernen Preis bezahlt oder den goldenen?“ Gesenkten Hauptes antwortet der Sohn: „Den goldenen“. Er hat also Geld bezahlt, anstatt den Besitzer zu töten, und ihm den Umhang wegzunehmen. Die pure, unbestechliche Macht, lässt sich mit Geld nicht kaufen. Darum verachten Machtmenschen den Kaufmannsstand. Verhandelt wird mit dem Schwert, bezahlt mit dem Tod. Ein bloßer Millionär, der sich zur High Society zählt, aber eben nur Geld hat, ist ein Hochstapler. Ein Milliardär, der sich zum Oligarchen macht, ist ein Hochstapler. Ein echter Machtmensch als Staatsschef kann den reichsten Milliardär des Landes ohne große Gerichtsverfahren einkerkern, und ist im Recht, insofern sich dieser Mann mit Geld Macht erkaufen wollte.

In der modernen Gesellschaft der Dekadenz entsteht die Anmaßung, alles mit Geld kaufen zu wollen. In der postmodernen Gesellschaft der Ultradekadenz setzt sich diese Anmaßung durch und Status und Macht werden nur noch als Geldäquivalent verstanden. Status als Status anzustreben, ist ein Rätsel, darum gilt der Schauspieler, der sich für eine Rolle im Film kaputt macht, als Freak. Auch Macht als Macht wird nicht mehr verstanden, und jemand wie Putin erscheint nicht mehr als normaler Mensch, sondern als eine KI oder Alien-I vom Mars. Dabei ist Macht als Macht der solare und Status als Status der lunare modus operandi in der anthropologischen Trias.


Sonntag, 26. Juli 2020

Die Hochkultur des Humanismus





Der Staat ist die Kirche des Humanismus. Die klassische humanistische Theokratie ist der Absolutismus. In der Dekadenzphase wird aus Religion politische Ideologie.

Renaissance: 1340-1500

Vitalwert: steigend
Ideologische Dominanz: genuine Kultur der Ich-Religion, Antike als Vorbild
Machtkern: verteilt
Kulturkern: Norditalien

Neuzeit: 1500-1700

Vitalwert: hoch
Ideologische Dominanz: Humanismus im engeren Sinne, politischer Absolutismus
Machtkern: Spanien/Frankreich
Kulturkern: verteilt

Frühmoderne: 1700-1830

Vitalwert: hoch, sinkend
Ideologische Dominanz: Liberalismus, Menschenrechts-Humanismus
Machtkern: Aufstieg des Britischen Reiches
Kulturkern: Frankreich/Deutschland

Hochmoderne: 1830-1918

Vitalwert: noch hoch, fallend
Ideologische Dominanz: Sozilaismus/Szientismus im engeren Sinne
Machtkern: Britisches Reich
Kulturkern: verteilt

Spätmoderne: 1918-1968

Vitalwert: mittel, stürzend
Ideologische Dominanz: Faschismus
Machtkern: USA
Kulturkern: Frankreich

Postmoderne: seit 1968

Vitalwert: niedrig
Ideologische Dominanz: Feminismus, Infantilismus, Nihilismus
Machtkern: USA
Kulturkern: USA

Die drei humanistischen Ideologien (sukzessive Dekadenzerscheinungen der Kultur des Atheismus/Szientismus) sind gesellschaftliche Bewältigungsstrategien des Untergangsprozesses der abendländischen Hochkultur. Aus der genuin humanistischen Perspektive handelt es sich dabei um einen Dehumanisierungsprozess:

1. Der Liberalismus erfordert hohe Autonomie des Individuums, aktive Selbstbestimmung, große Willenskraft, ist sozial kalt und wirtschaftlich schöpferisch.

2. Der Sozialismus erfordert hohe Frustrationstolerannz und Selbstbeherrschung, Freiheit und Autonomie wird vergesellschaftet; sozialer Ausgleich, wirtschaftliche Teilhabe.

3. Der Faschismus vergemeinschaftet Freiheit und Autonomie, das Individuum geht in der Gesellschaft organisch auf; soziale Wärme und Raubökonomie.

4. Der Nihilismus feminisiert (1968-2001) und infantilisiert (seit 2001) das Individuum; soziale Schwüle, Fäulnis, Auflösung des menschlichen Subjekts, atomisierte Objekte, parasitäre Ökonomie (Outsourcing der Wertschöpfung, aber auch der Sklavenarbeit; die Mehrheit parasitiert auf technologischem Fortschritt, geleistet von wenigen, sowie von billiger Arbeitskraft in ärmsten Weltregionen. Totale Dominanz des Finanzsektors). Scheinbar handelt es sich um den siegreichen Liberalismus, in Wirklichkeit wird totale Entfremdung als freiheitlich (bzw. neoliberal) erlebt.

Samstag, 25. Juli 2020

Humanismus 3: Faschismus




Du bist 18 und vital, willst dich verwirklichen, entfalten. Bindungen aller Art empfindest du als belastend. Du willst weder durch horizontale noch vertikale Beziehungen deine Selbstbestimmung einbüßen; weder Gleichmacherei noch Unterordnung deiner Interessen unter ein gemeinsames Ziel willst du akzeptieren. Die freiheitliche Gesellschaft des Liberalismus ist für dich optimal.

Zwanzig Jahre später bist du Familienvater geworden. Deine berufliche und freizeitliche Wahlfreiheit hast du verwirklicht, auch sozial hast du deine Wahl getroffen: du willst nicht allein, sondern in einer Familie leben. Freiheit brauchst du eigentlich nicht mehr, denn du hast dich schon frei entschieden. Und jetzt hast du andere Sorgen. Das Schlechteste, was dir als Vater passieren kann, ist, dass deinem Kind etwas passiert. Jetzt siehst du die Polizei nicht mehr als Unterdrücker deines anarchisch-freiheitlichen Austobungstriebes, jetzt würdest du gern mehr Polizisten sehen, am besten an jeder Ecke, an der deine Tochter im Laufe des Tages vorbei muss. Du regst dich auf über all den kriminellen Dealerabschaum und forderst, dass der Staat endlich schärfere Gesetze gegen Kinderpornographie erlässt. Du misstraust Fremden und würdest dich in einer ethnisch und kulturell homogenen Gesellschaft viel wohler fühlen. Glückwunsch, du bist jetzt Faschist.

Von sozialdarwinistischen Ursprüngen des Faschismus wollen wir uns vom höchsten Wert des faschistischen Humanismus nicht ablenken lassen: der Sicherheit. Letztlich ist das Überleben, die Sicherheit der Nachkommen, auch darwinistisch gesehen, das höchste Ziel. Die faschistische Gesellschaft ist kriegerisch nach außen, aber homogen und friedlich im Inneren. Der Sozialdarwinismus der Faschisten ist rassistisch und richtet sich gegen andere Gesellschaften oder fremde Gruppen, er ist keineswegs als neoliberaler Sozialdarwinismus nach Adorno-Horkheimerschem Gesetz des Dschungels zu verstehen.

Der faschistische Vater Staat scheitert wie die sozialistische Mutter Staat an der menschlichen Natur. Entweder wird man vom äußeren Feind besiegt oder man ermüdet in der Diktatur der Sicherheit und kehrt allmählich zum entropisch verträglicheren Liberalismus zurück. Nicht zu vernachlässigen ist, dass der Welthegemon des 20. Jahrhunderts das liberale angloamerikanische Imperium ist. Faschistische Staaten werden gegen den sozialistischen Machtblock ausgespielt, benutzt und wieder fallengelassen. Eine faschistische Weltunion ist ein Ding der Unmöglichkeit, weil die ideologische Grundlage des Faschismus eine internationale und multikulturelle Gesellschaft ausschließt. Deutschland und Japan wären nach einem gemeinsam gewonnenen Weltkrieg mit großer Wahrscheinlichkeit wie in der Dystopie von Philip K. Dick sofort Feinde geworden.


Freitag, 24. Juli 2020

Humanismus 2: Sozialismus





Der Mensch als einsamer Wolf, bindungsloser Glücksritter, atomisiertes Individuum: das ist ein sozial sehr kaltes Paradies der Freiheit. Der konkrete lebendige Mensch will nicht bloß frei sein, er will auch geschätzt und geliebt, gebraucht und respektiert, versorgt und verstanden werden. Kein Mensch kann ohne Gesellschaft leben, und kein Mensch will als einsames rationales Wirtschaftssubjekt in der Gesellschaft leben. Es gibt nicht nur Business und freie Entfaltung der Person, es gibt auch horizontale und vertikale Beziehungen zu anderen Menschen. Und letztlich ist die Verwirklichung der Freiheit eine Möglichkeit, die auch scheitern kann, der Mensch aber lebt in der Wirklichkeit.

Die soziale Frage stellt sich in liberalen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts mit größter Schärfe und Dringlichkeit. Doch ausgerechnet das antiliberale Russland erlebt die radikalste sozialistische Revolution. Der Wert, den der sozialistische Humanismus am höchsten hält, ist Gleichheit. Gleichheit jetzt, am besten sofort, heißt es in Russland, wo nicht einmal ein Ende des Krieges abgewartet wird. Der Sozialist nimmt sogar den Zerfall seiner Gesellschaft in Kauf, solange in ihr Ungleichheit herrscht. Die begeisterten Volksmassen schaffen es aber, trotz Niederlage im Weltkrieg und trotz Interventionen der gestern noch Verbündeten im russischen Bürgerkrieg, auf den Ruinen des imperialistischen Kaiserreiches eine Union der sozialistischen Republiken zu gründen.

Diese sozialistische Union ist eine totalitäre Diktatur. Der Preis der klassenlosen Gesellschaft ist die totale Unterdrückung der Freiheit. Eine humanistische Theokratie entsteht: der Staat, die Kirche der Religion Atheismus/Szientismus, herrscht mit absoluter Macht. Statt einer Trennung von Staat und Kirche vernichtet man einfach die Kirche, denn der Staat ist die Kirche. Die durch die Revolution aufgestiegene Generation setzt kolossale Kräfte frei, doch als sich die Gesellschaftsstruktur verfestigt, erweist sich Gleichheit wieder als Illusion: die Parteibonzen sind der neue privilegierte Stand. Apathie macht sich breit in einer Gesellschaft, die nichts mehr zusammenhält, weil sie die versprochene Gleichheit nicht verwirklicht hat. Vom Triumpf des humanistischen Gemeinwohls (erster Mensch im Weltraum, 1961) bis zur Auflösung des sozialistischen Machtblocks durch asoziale Egoisten vergehen nur 30 Jahre. Weitere 30 Jahre später ist Russland eines der ungleichsten Länder der Welt.

Donnerstag, 23. Juli 2020

Humanismus 1: Liberalismus






Als Selbstbezeichnung haben wir nicht das sperrige Schrägstrichwort, sondern den spritzigen Begriff Humanismus für unsere Religion gewählt. Der Atheismus/Szientismus ist die Ich-Religion, somit die Religion der Selbstvergottung des Menschen. Der Mensch ist das Maß aller Dinge: dieser Satz ist nunmehr kein sophistischer Frevel, sondern ein ernstes, positives weltanschauliches Programm. Die Renaissance arbeitet es aus, die Neuzeit verwirklicht es.

Was ist der Mensch? Vernunftbegabtes Sinnenwesen, und zwar als Individuum. Was ist der höchste Wert des Menschen? Die Würde. Aber worin besteht sie? Der Liberalismus sagt: in der Freiheit. Der Mensch ist seit dem Beginn der Zivilisation unfrei gewesen, nun soll er sich, und zwar jeder, frei entfalten können. Die individuellen Startbedingungsunterschiede fallen nicht ins Gewicht, denn wenn jeder frei ist, kann er selbst alles werden, was er will und kann.

Doch die positive Freiheit, die Freiheit-zu, erfordert Ziele. Der Atheist lebt für sich, nicht für Gott; der Szientist entzaubert die Welt, nicht nur die äußere (Naturwissenschaft), sondern auch die innere (Geisteswissenschaft). Je weiter der Liberalismus fortschreitet, umso weniger positive Freiheit ist möglich, Ziele werden eines nach dem anderen sinnlos. Was bleibt, ist der Kampf um immer mehr Freiheit-von: Freiheit von politischer und sozialer Unterdrückung, Freiheit von Fremdbestimmung der Geschlechtsidentität (Transsexualität), Freiheit von den Beschränkungen des Menschsein (Transhumanismus). Die absolute negative Freiheit führt konsequent zum Antinatalismus, der moralischen Maxime, nicht die Freiheit eines Menschen dadurch zu beschränken, dass man ihn in die Welt setzt (denn man raubt ihm eine Menge negativer Freiheiten, indem man ihn genetisch determiniert, die Familie, das Land und die Zeit seiner Herkunft bestimmt, ihn zur Unvermeidlichkeit von Leid und Tod verdammt usw.).

Mittwoch, 22. Juli 2020

Warum ist der Szientismus die Ich-Religion?





Die begrifflich höchste Wissenschaftsphilosophie, Fichtes Wissenschaftslehre (1794), gründet auf dem Satz „Ich=Ich“. Seit Descartes steht das erkennende Subjekt im Zentrum des wissenschaftlichen Weltbildes. Zu den konkreten einzelnen erkennenden Subjekten kommen wir noch zurück. Descartes geht als barocker Mathematiker davon aus, dass wir die Welt naiv-realistisch wahrnehmen und durch den Verstand erkennen können (Rationalismus R0). Kants Kritizismus reflektiert das menschliche Erkenntnisvermögen, um Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlichen Erkennens zu erkennen (R1: Reflexion). Hegel reflektiert das Erkennen des Erkennens (R2: Reflexion der Reflexion). Wohin man schaut, überall verhandelt man das Verhältnis zwischen dem Subjekt (Ich) und dem Erkennen (Wissenschaft).

Locke geht als Empirist davon aus, dass wir die Welt naiv-realistisch wahrnehmen und dadurch erkennen können, wobei der Verstand die Erkenntnis nicht erst ermöglicht, sondern hinterher ordnet, so dass wir keine einzelnen Erkenntnisinhalte, sondern eine systematisierte Vorstellung von der Welt im Kopf haben (Empirismus E0). Hume reflektiert als skeptischer Empirist die Rolle des Verstandes und der Sinne bei der Welterkenntnis und stellt die Möglichkeit von System und Wissenschaft in Frage (E1: Reflexion). Berkeley geht den Weg des Empirismus konsequent zu Ende bis zum Satz „Sein ist Wahrgenommenwerden“, womit er im subjektiven Idealismus/Solipsismus landet (E2). Rationalismus und Empirismus, beide auf die Spitze getrieben, finden die Quelle aller Erkenntnis im Ich (Hegel im denkenden, Berkeley im wahrnehmenden Subjekt). Die Erkenntnistheorie der Neuzeit führt immer zurück zum Ich.

Und nun zu den einzelnen erkennenden Subjekten; wer mich endlich verstanden hat, genießt und schweigt: Die Temperatur misst man in Kelvin (bzw. Grad Celsius, Grad Fahrenheit usw.), die Energie misst man in Joule, die elektrische Spannung in Volt, die magnetische Flussdichte in Tesla. Lord Kelvin (1824-1907) war ein britischer Physiker, James Joule (1818-1889) war ein britischer Physiker usw. usf.

Dienstag, 21. Juli 2020

Abendländische Machtkämpfe





15. Jahrhundert. Der chinesische Kaiser Yongle schickt kolossale Flotten in die Welt, die die kulturelle (das war ihnen am wichtigsten), militärische und wirtschaftliche Dominanz Chinas anerkennt. Chinas BSP war zu jener Zeit, wie schon während der Song-Dynastie, nicht nur absolut, sondern wohl auch pro Kopf höher als in reichsten Ländern Europas. Am Ende des Jahrhunderts schickt die spanische Krone schäbige Schiffe, deren Besatzungen durch Fehlkalkulation der Abstände fast verhungern, aber durch Zufall die Karibik entdecken. Portugiesen, die Afrika umsegeln, werden bestenfalls als Piraten betrachtet, keineswegs als Botschafter einer hochentwickelten und mächtigen Kultur.

Im 16. Jahrhundert ist Europa immer noch nicht fertig mit sich selbst. Auf den Religionsfrieden 1555 folgt der Machtkampf der machiavellisch-bodinschen Nationalstaaten, der 1648 entschieden wird. Als Religion siegt der Protestantismus (Atheismus bzw. die Ich-Religion in verstecker Form) gegen den Katholizismus (den alten Aberglauben), als Staat das frühmoderne cartesianische Frankreich gegen das spätmittelalterliche Spanien. Die hohe See erobern englische Piraten und holländische Händler, beides keine Bedrohung für niemanden, allenfalls für spanische Flotten und portugiesische Ostasien-Kaufleute. Die unmittelbaren Nachbarn sind mächtiger: die aufgeblasene litauische Zecke, die sich Polen einverleibt hat, und das riesige Osmanische Reich sind Kolosse für Europa und machbare Gegner für Ming-China und Mogul-Indien.

Der mitteleuropäische Bürgerkrieg springt auf die Insel über, erst 1688 ist Britannien befriedet und erst 1757, nach einem keineswegs überlegenen Sieg in Bengalen, durch Raub reich genug, um die industrielle Revolution zu finanzieren. Dieser Dusel-Sieg findet zur Zeit des ersten europäischen Weltkriegs statt (1756-1763), der um Ost- und Westindien geführt wird; England siegt auch in Nordamerika. Militärisch gibt das Land des Sonnenkönigs die Führung an das geschäftstüchtige England, kulturell an das zersplitterte Deutschland ab. Das antisystemische Element der abendländischen Zivilisation, Russland, fegt Polen-Litauen, Schweden und die Osmanen vom Platz und wird zum systeminternen Gegenpol erst Englands (The Great Game), dann der USA (Kalter Krieg).

Deutschlands Weg von der Kultur in die Dekadenz führt über Siege in Forschung, Entwicklung und Kriegskunst zu zwei gescheiterten Versuchen der Welteroberung. Damit ist entschieden, dass nicht Europa unter deutscher Führung, sondern die von Beginn an als titanisch-kybelisch konzipierten USA Britannien als Weltmacht beerben (mit dem genannten systeminternen Gegenpol). Das Abendland als Hochkultur ist dem Osten nie überlegen: die Unterwerfung Chinas geschieht im Zeitalter der Dekadenz und selbst die Aufteilung Afrikas findet erst kurz vor dem dritten europäischen Weltkrieg (1914-1918) statt. Seinen letzten Krieg in der Hochphase der Kultur führt Europa als seinen zweiten Weltkrieg, den napoleonischen Krieg, ein Jahrhundert zuvor.

Der Kampf der Titanen verursacht 1962 und 1983 fast einen nuklearen Weltuntergang; der tellurisch-demetrische Titan lenkt einmal auf „Der Klügere gibt nach“-Art ein, und einmal entscheidet sich ein russischer Soldat, auf einen Atomangriffsalarm nicht zu reagieren. Da Demeter nicht theomachisch-titanisch ist, gibt der russische Demetrios (Dmitrij, nicht Iwan: der archetypische Russe ist Sohn der Demeter) nach und löst sein Reich des Bösen auf. Das andere, Ulalume, scheint zu triumphieren, doch der kybelische Titan zerstört sich zunehmend selbst im Terrorismus-Wahn (ab 2001) und im kulturellen Nihilismus (die unmittelbare Gegenwart). Die abendländische Zivilisation hat die Welt nicht ritterlich erobert, sondern krokodilesk verschlungen und nicht verdaut. Der Rest der Welt wird sich vom Westen der Welt nicht in einem klassischen Machtkampf befreien, sondern das Krokodil von Innen zerreißen und nicht viel übrig lassen.