Sonntag, 17. Juni 2018

Selbsttranszendenz





Wer kein Bedürfnis nach Selbsttranszendenz hat, empfindet seine Endlichkeit nicht als Mangel, und Endlichkeit ist für ein geistiges Wesen der Mangel schlechthin. Nur ein dummer, tierischer Mensch strebt nicht über sich hinaus: in seiner Erfahrung dreht sich die Welt ohnhein um ihn; sein erbärmliches Pseudo-Ich, seine "Persönlichkeit", die nur ein Plagiat ist, erlebt er als den Mittelpunkt des Universums. Dies harte Urteil trifft wohlgemerkt einen niedrigen und gemeinen Menschen, der mit geklautem Geist sich einem geistig Hochstehenden ebenbürtig wähnt. Das bloße menschliche Tier, homo sapiens, welches sich nicht anmaßt, mehr als ein Tier zu sein, kann nicht verachtet werden, so wie eine Taube nicht dafür verachtet werden kann, dass sie nur eine Taube ist.

Wer ein Bedürfnis nach Selbsttranszendenz hat, kann sich theoretisch zwischen Romantik und Religion entscheiden. In der Romantik wird Endliches als unendlich verklärt, indem man sich in einen anderen Menschen verliebt; in der Religion wird Unendliches personifiziert, und somit verendlicht. Beide Verhältnisse sind fehlerhaft, weil das Endliche sich gegenüber dem Unendlichen nicht angemessen verhalten kann: das Endliche und das Unendliche sind inkommensurabel.

Die romantische Liebe muss an der Realität scheitern - nicht obwohl, sondern weil sie edel und rein ist. Dennoch ist sie für die conditio humana als Option unverzichtbar, denn durch sie wird im einzelnen Menschen die Idee der Menschheit verehrt. Nichts anderes bedeutet, sein Ich-Ideal auf die geliebte Person zu projizieren: diese Person hat durch ihr Menschsein prinzipiell Anteil an der Idee der Menschheit, und das eigene ideale (somit transzendentale, nicht empirische) Ich ist die Menschheit als Person. Dadurch erklärt sich, weshalb das Scheitern einer romantischen Liebe als Scheitern der Menschheit als solcher erlebt wird.

Die Religion ist die vernünftige Form der Selbsttranszendenz, da sie auf ein tatsächlich Unendliches blickt. Jedoch kann die endliche Vorstellungskraft des Menschen das Unendliche nicht erfassen, und muss es personifizieren, und somit verendlichen: ein so oder so bestimmter Gott ist nicht mehr Gott, sondern nur ein Gott. Wenn man den Himmel auf die Erde holt, wird aus Religion Ideologie. Glaubt man an das abstrakte Unendliche, kann man es vom Nichts nicht mehr unterscheiden, und fällt mit dem Pantheismus ins Endliche zurück.

Die Tragik - die Notwendigkeit aber Unmöglichkeit des Selbsttranszendenz - des geistigen aber endlichen Menschen ist zugleich seine Größe. Der nicht über sich hinaus strebende, ungeistige Mensch will sich diese Größe erschleichen, ohne die Tragik zu erfahren; er kann religiöser wirken als der wahrhaft Religiöse, er kann Liebe vorspielen, obwohl er unfähig ist, sie zu empfinden oder nur zu verstehen. Es will kein angemessenes Schlusswort einfallen, denn es gibt keine Versöhnung im Endlichen.