Mittwoch, 6. Juni 2018

Hybris





Seit wann glaubst du an Gott? Seit der Kindheit, seit Kurzem, noch nicht, oder erst in der Hölle? Ein Scherz zur Aufheiterung, versteht sich. Niemand kommt in die Hölle, als nur durch Hybris. Und "hybrid" bist du doch nicht, nein, ganz gewiss nicht. Ich glaube an Gott seit dem 21.2.1998, und das hat mit dem Christentum nichts zu tun, das war reine Mystik. Ich war den ganzen Abend allein draußen spielen, es war fünfzehn Grad warm - und siehe, Gott erschuf fünfzehn Grad. Aber zurück zu dir - stell dir vor, du, Konvertit aus Liebesverzweiflung, oder christlich erzogener Ottonormalchrist, das spielt keine Rolle, stellst irgendwann fest, dass sich auf der Welt durch deine Gebete nichts ändert, dass Gott sie nicht erhört, dass du unglücklich bist, während die Gottlosen in Saus und Braus, konkreter, in Sex und Liebe leben. Du verabschiedest dich vom Glauben. Atheist erhobenen Hauptes. Wenn Gott dies, das und jenes zulässt, kann es ihn ganz sicher nicht geben.

Nun gibt es dich. Du leidest. Nichts Besonderes eigentlich, aber du merkst, dass du anders leidest, als du wegen all der kleinen Fälle, Unfälle und Zufälle in deinem nun ja ganz befriedigenden Leben leiden solltest. Du leidest daran, dass das Leben an sich sinnlos ist. Gut und Böse sind nur Kinderwörter ohne Bedeutung. Aber das kann, darf, soll nicht sein! All diese Schönheit in der Natur, in der Kunst, all diese Grausamkeit, die nach höherer Gerächtigkeit schreit, - es gibt Dinge, die nicht relativ sein können. Der Holocaust, der Sexualmord an einem kleinen Jungen in der Nachbarschaft - das ist nicht relativ schlecht, das sind Übel von absoluter Bedeutung, und wer dies verneint, ist nicht bloss einer anderen Meinung, sondern wahrhaft ein böser Mensch. Aber das alles spielt keine Rolle - Gott gibt es ja nicht, das absolut Gute ist ein leeres Ideal. Nein, denkst du, denn du bist abgrundtief gut. Wenn es Gott nicht gibt, sagst du, dann bin ich Gott.

Nun werden dich Menschen vom gemeinen Verstande als größenwahnsinnig bezeichnen - du bist doch nicht Gott! Natürlich bist du nicht allmächtig, du machst Fehler, du weißt ein kleines Bisschen weniger als alles. Ein hilfloser Gott, der wie ein Hund leidet - das passt durchaus in das Gottesbild der zeitgenössischen Theologie. Aber so weit wollen wir das Niveau hier nicht sinken lassen. Du nimmst die Bürde auf dich, Gott zu sein, um all das Gute auf der Welt zu würdigen, um es nicht umsonst sein zu lassen. Von Außen betrachtet, ist die Aussage "Ich bin Gott" der größtmögliche Wahnsinn, eine maßlose Anmaßung. Objektiv gesehen bist du weder größenwahnsinnig noch Gott: solange Gott blau macht, bist du seine Blaupause, oder ungefähr so relativ ähnlich. Hybris ist aber dort zu Hause, wo man beim Namen Bescheidenheit klingelt.

Eine christliche Gemeinde, die nichts mit den offiziellen Kirchen zu tun haben will und behauptet, auf einzig wahrhaft gute und richtige Weise an Gott zu glauben. Man redet sich mit Bruder Paul und Schwester Petra an, und die Logik ist hier eigentlich zu Schade, aber muten wir ihr diese halbe Runde Sparring mal zu - wären Paul und Petra deine Geschwister, würdest du sie mit Bruder Paul und Schwester Petra anreden? Nein, du redest sie ganz normal mit Paul und Petra an. Was sagst du aber, wenn du bei der Anrede jedes mal betonst, dass du die Beiden für deinen Bruder und deine Schwester erachtest? Du sagst, wie gütig du bist, so gütig, dass du wildfremde Menschen Bruder und Schwester nennst. Die Klöster haben ihre jahrhundertelange Tradition, dort ist es schick, einander Bruder Paul und Schwester Petra zu nennen, so als würde man Doktor Paul und Professor Petra sagen. Wo jedoch auf äußerlich gelebte Güte so viel Wert gelegt wird, stellt sich die Frage, welche inneren Unzulänglichkeiten diese kompensieren soll.

Ein Christ, der dich auf der Straße anspricht und dir erzählt, nur seine evangelikale Freikirche würde das wahre Christentum praktizieren, hat sie. Ein islamischer Missionar, der dir sagt, es gäbe keinen anderen Weg ins Paradies, als den Islam, leidet an, aber womöglich nicht unter ihr. Ich, wenn ich dir sagen würde, nur das, was ich in meiner Kolumne über Gott schreibe, sei die Wahrheit, wäre an ihr erkrankt. Weder Toleranz noch Relativismus heilen sie. Nur Aufrichtigkeit, selbst-bewusste, bodenständig und himmelsehend gelebte Würde kommt gegen sie an. Du kannst nicht für alle Menschen den Weg zu Gott, ins Paradies oder in die beste aller Gesellschaften bestimmen. Deine Menschenwürde ist von absoluter Gültigkeit, aber nicht dadurch, dass du über anderen Menschen stehst, dass du der Beste, der Klügste, der Einzigste bist. Wenn du in deiner konkreten Lebenssituation zum Schluss kommst, dass du Gott bist, da es dort draußen keinen Gott gibt, dann ist es für dich auch wahr - so wahr jedes subjektive Empfinden und jede persönliche Lebenserfahrung ist: es wäre doch lächerlich, zu behaupten, du wärest in das Mädchen dort nicht verknallt, nur weil es deine subjektive Empfindung ist. Wenn du aber für mich entscheiden willst, was der Weg zum Glück, zum Paradies, zu Gott ist, dann ist es Hybris.