Dienstag, 10. April 2018

Flaschenhals der Abstraktion





Gott - woran denkt man dabei? Nein, nicht Denken im Sinne von Denken - man sagt gewöhnlich Denken, meint aber Vorstellen. Gott - was stellt man sich darunter vor? Wohl kaum das allerrealste Wesen, das absolute Subjekt, die höchste Idee, das unbewegt Bewegende, den unerschaffenen Grund allen kreatürlichen Seins. Nein, unter Gott stellt man sich den Weihnachtsmann vor, einen barmherzigen Richer, unterbewusst den eigenen Vater, und wenn man Glück hat, sein eigenes idealisiertes Selbst.

Voller Vorurteile über die bösen Deutschen kommt ein Franzose, ein Engländer, ein Amerikaner um das Jahr 1970 in die Bundes- (nicht in die Demokratische) Republik und erfährt, dass die Deutschen ganz anders sind. Das, was du über einen bestimmten Menschen denkst, hat erst dann etwas mit diesem Menschen selbst zu tun, wenn du ihn kennenlernst, - oder er bleibt eine Projektion deiner Vorurteile und früherer Erfahrungen - selbstredend nicht der Erfahrungen von dieser einen Person. Wie Fallschirmspringen ist, erfährt man, wenn man Fallschirm springt. Und wie Gott ist, erfährt man, wenn man eine Erfahrung mit ihm macht, ihm begegnet.

Bloss nicht! Da eine Gotteserfahrung zwangsläufig durch etwas anderes als Gott selbst vermittelt ist - durch andere Menschen, durch bewusstseinsverändernde Drogen, durch die Art der Meditation, durch die Inbrunst des eigenen Glaubens, durch die fokussierte Einbildungskraft, ist sie niemals eine Erfahrung Gottes. Gott kann man nicht erleben wie einen Menschen oder einen Sonnenuntergang. Gott bleibt der Sinnenwelt transzendent, und an dieser Wahrheit ist die Seriösität jeder Kirche zu messen. Wer eine unmittelbare Begegnung mit Gott verspricht, der hat nicht selbst Gott erlebt, sondern sie nicht mehr alle.

Wer nicht bereit ist, von allem Sinnlichen zu abstrahieren, oder gar ein empirisches Kriterium der Wahrheit postuliert, sollte sich wahrheitsgemäß zum Atheismus bekennen. Eine Welt, in der der Geist, das Übersinnliche, nur als ein Epiphänomen neuraler Prozesse existiert, ist keine reale Welt, und darum hat das allerrealste Wesen in ihr nichts verloren: wenn das Übersinnliche eine Illusion ist, dann muss es ein übersinnliches Subjekt geben, das diese Illusion hat: ein Ich kann man nicht messen und nicht anfassen, aber wenn es falsche Vorstellungen, Illusionen haben kann, dann muss es auch existieren; wenn aber nur sinnlich Greifbares, Messbares, Materielles existieren kann, so existiert entweder die Welt selbst nicht, oder das Ich als Übersinnliches ist real.

Gott ist nicht einfach das Größte, Schönste oder Wohltuendste, was sich einer vorstellen kann. Für die Vorstellung ist Gott nichts, da Gott nicht als Gegenstand vorgestellt werden kann. Wer nicht begrifflich denken kann, ist zwingend Nihilist, denn wenn er sich unter Gott nichts vorstellen kann, muss er sich das Nichts als Gott vorstellen.

Die Vorstellung von Gott muss durch einen Flaschenhals der Abstraktion hindurch, will man Gott erkennen. Will man aber nicht das absolute Sein begreifen, das realste Wesen denken, sondern das Einlullendste, das tröstende, das führende und aufpassende, das babysittende Wesen, so stelle man sich selbst gleich als Schaf vor: Gott ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen.