Montag, 16. April 2018

Endliche Werte





Brauchen wir Gott, um moralisch zu handeln? Mitnichten. Wir können ja so tun, als ob es einen höheren Sinn gäbe, Gutes zu tun und Böses zu unterlassen, und wenn sich alle an das Drehbuch des großen Als-Ob-Theaters halten, sind alle glücklich. Aber was, wenn einer Pech hat, und es ihm so richtig dreckig geht? Er spielt nicht mehr mit, und hat, Licht der Vernunft wieder an, nicht einmal Unrecht. Und wenn einer anfängt nachzudenken, warum dies gut und jenes böse ist, und ob es nicht ganz anders sein könnte?

Es geht hier keineswegs darum, die Unmöglichkeit moralischer Werte ohne Gottesbezug aufzuzeigen, im Gegenteil. Wenn es nichts Höchstes, Heiliges gibt, können wir uns auf unser Gewissen zwar bei Sinnen, aber nicht mehr sinnvoll berufen. Gibt es noch Werte, wenn sie in keinem Bezug zum höchsten Wesen stehen? Natürlich. Wir wollen Lust empfinden und Unlust vermeiden. Wer einmal schwer krank war, dem werden diese hedonischen Werte nicht so banal vorkommen, wie einem Elterzweisöhnchen von einem Diskurswicht, der Folgendes nicht verstehen kann oder will: so wie die Kirche all die zivilisatorischen und moralischen Fortschritte, die ihr in schwerem Kampfe abgerungen wurden, am Ende auf ihre Fahnen schrieb, lässt der Atheismus die transzendenten Voraussetzungen der Unhinterfragbarkeit absoluter moralischer Prinzipien mitgehen, ohne dass der naive Laizismuslaie weiß, woher sie kommen.

Es gibt ein Machtproblem: der Staat, die zweitgrößte Machtstruktur nach den Banken, sperrt die kleinen Schurken ein und arbeitet mit den großen (siehe die größte Machtstruktur) zusammen. Es gibt nun kein allerhöchstes Wesen, welches das auf Erden fabrizierte Unrecht wieder geraderückt, mit anderen Worten: es wird nicht alles gut. Wer hier schlucken muss, wird den unheiligen Samen des Kirchenamtsmissbrauchers eher schlucken wollen, als mit dieser feiglingsfeindlichen Konsequenz der Gottlosigkeit zu leben. Das Gute ist nicht allmächtig, die Gerechtigkeit ist, wie übrigens auch das Recht, durch nichts Höheres als die Gunst der großen Schurken verbürgt. Male ich die Welt schwarz? Wer an einer Eigenverantwortungsallergie leidet, sieht vielmehr selbst Schwarz. Ich sage nur in - nein nicht rosa - Prosa, wie diese Welt ist, ohne sie nach absoluten moralischen Prinzipien für schlecht zu befinden, denn wir wollen ja ohne solcherlei Dichtung vom höchsten Wesen auskommen.

Es lässt sich so schön Atheist sein, wenn man weiß, dass die Anderen brav an einen Weihnachstmann im Himmel glauben, der mit seiner Allmacht dafür steht, dass am Ende alles gut wird, die Bösen bestraft und die Guten belohnt, - ohne die Möglichkeit eines Justizirrtums. Was, wenn keiner mehr an die schützende und für Recht sorgende Hand von Oben glaubt, sprich alle erwachsen geworden sind? Was tröstet Elter 1 und Elter 2 noch, wenn ein bestialischer Verbrecher, der ihr Kind gequält und ermordet hat, niemals seine gerechte Strafe bekommt, sondern die Tat bis zu seinem Lebensende in Gedanken immer und immer wieder genießen kann, um wie alle anderen guten oder bösen Menschen friedlich oder qualvoll - aber ohne das rechte Gericht danach - zu entschlafen? Die Rache wird den Geschädigten nie so viel Genuss und Freude bereiten, wie die Tat dem Täter bereitet hat. Was tun mit schweren und erniedrigend banalen Schicksalsschlägen? Welchen Sinn hat das Leben?

Gute Frage. Weiß man denn die Antwort, wenn man an ein höheres Wesen glaubt? Nein. Abstrakt ja, aber für sich konkret niemals, und darauf kommt es an. Abgesehen von Irren, die meinen, mit Gott von Angesicht zu Angesicht gesprochen und von ihm eine Lebensaufgabe bekommen zu haben, weiß kein transzendenzunbeschnittener Mensch, was er mit seinem Leben anfangen soll. Eine Religion, die so etwas vorschreibt, ist eine trügerische Ideologie, und hat mit Transzendenz nichts zu tun. Es ändert sich im WesentlICHen nICHts. Der Einzelne muss - ob mit oder ohne einen Transzendenzbezug - den Sinn seines Lebens, seine Prinzipien, seine Werte immer mit sich selbst ausmachen; man fragt ja auch nicht Gott, ob man an Gott glaubt, sondern sich selbst.

Dasein und Verlust der Transzendenz sind keine statischen Zustände: wer nur Eines kennt, und das Andere nie erfahren hat, hat nie gelebt. Wenn Gott will, dass ich mich von ihm entferne, dann gehe ich in die Gottesferne, sagt ein Apostel. Wenn ich der Welt das Licht bringen soll, muss ich von Gott fortgehen, weiß ein Engel. Wenn ich im Innersten meines Wesens, im tiefsten Grunde meines Ichs ohne ein Warum nicht weiß, was gut und was böse ist, was schön und was hässlich ist, wenn mir in meinem Herzen egal ist, was wahr und was falsch ist, wird es mir keiner jemals beibringen können - weder die eigene Lebenserfahrung noch ein höchstes Wesen.