Dienstag, 24. April 2018

Edler Rückzug





Die Pathologisierung des Suizids kann zu Amokläufen führen, denn wird dem Lebensmüden der edle Rückzug ohne psychologische Abwertung und soziale Erniedrigung verwehrt, wird er sich stattdessen an einzelnen Menschen oder an der Gesellschaft rächen. Das Leben ist ungerecht und kann grausam sein. Menschen können aber auch erkennen, dass andere ihnen ein großes Übel aus Schwäche, und nicht aus Bosheit angetan haben, was jedoch den angerichteten Schaden nicht wiedergutmacht. Ein Erwachsener, der vergeben hat, wird die geraubte Kindheit nicht zurückbekommen, und hat nicht die Möglichkeit, als 11-Jähriger weiterzuleben, um all die guten Erfahrungen nachzuholen, die ihm gestohlen wurden. Was soll er tun, sich rächen? Und dann? Und wenn er die Weisheit und Größe hat, die Sinnlosigkeit der Rache zu erkennen?

Man kann entweder den Suizid pathologisieren oder die Rache verdammen, aber wenn man beides tut, lässt man dem Geschädigten keinen Ausweg. Wo es keinen richtigen Weg gibt, gibt es auch keinen falschen. Wenn der Suizid schlecht ist, ist die Rache gut; ist die Rache schlecht, muss der stille Rückzug akzeptiert und respektiert werden. Nicht alle Wunden heilen, und die Behauptung einer Pflicht, ein kaputtes Leben bis zum würdelosen fremdbestimmten Ende weiterzuleben, verstößt gegen das Recht auf Leben, welches zuvörderst ein Selbstbestimmungsrecht ist. Die Welt wäre ein besserer Ort, wenn der Suizid als edler Rückzug respektiert würde, doch leider dominiert bislang die Meinung von Sadisten, die dem „Selbstmörder“ Feigheit und „Angst vor dem Leben“ vorwerfen. In der Suizidfrage richtet sich die öffentliche Meinung nach dem scheußlichen Geschwafel von Narzissten und Soziopathen.

Beschlösse meine bescheidene Wenigkeit, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden, so könnte dieser Entschluss durch wohlgemeinte Ratschläge nicht umgekehrt werden, denn er wäre wohlüberlegt. Zwangsmaßnahmen zur Suizidprävention würde ich als Folter empfinden, und mit dem Recht auf Notwehr meinen selbstgewählten Tod genauso wie mein Leben im Falle eines Angriffs mit äußerster Gewalt verteidigen. Um verantwortungslose Gutmenschen davon abzuhalten, andere der Gefahr auszusetzen, durch meine rechtmäßige Notwehr verletzt oder getötet zu werden, müsste ich meinen Rückzug aus dem Leben heimlich planen, und wäre der Möglichkeit, mich von meinen Freunden angemessen zu verabschieden, beraubt. Wer gehen will, den kann man nicht aufhalten; der Wille bahnt sich seinen Weg. Man kann aber den Suizid enttabuisieren und den Umgang damit humaner gestalten, sodass nicht Beschämung und Hysterie bei diesem Thema den Ton angeben, sondern Empathie und Vernunft.   

Der Tod, auch der selbstgewählte, gehört zum Leben dazu. Wer das Leben bejaht, bejaht auch die Möglichkeit eines selbstverschuldet, fremdverschuldet oder am Schicksal scheiternden Lebens. Wer Mut zum Leben hat, hat auch den Mut, aus dem Scheitern Konsequenzen zu ziehen. Die Freiheit ist ein höherer Wert als das Leben selbst; die feige und passive Haltung bei der Tabuisierung des selbstbestimmten Lebensendes ist pathologisch, nur der rationale Umgang mit dem Thema Suizid ist gesund und lebensbejahend.