Mittwoch, 28. März 2018
Wiedersehen nach dem Tod
Jeder verliert irgendwann die Großeltern, dann die Eltern, schon früh den Hund oder die Katze an den Sensenmann - in einer Gesellschaft, in der Hunde und Katzen für liebenswürdiger als Kinder erachtet werden (Kinder sind für die Demographie da, Hunde und Katzen für Liebe und Fürsorge), sollte dieses Präludium nicht zynisch verstanden werden.
Über meinen ersten großen Verlust, den Tod unserer Katze, hat mich der trostlose Alltag in der als Verbannung erlebten südsibirischen Steppe hinweggetröstet, aber gewöhnlich möchte man einen Trost erfahren, der nicht in noch Schlimmerem besteht, als es der Verlust schon ist. Es sorgt außerdem mehr für Verbitterung denn für den Seelenfrieden des am Leben Hinterbliebenen, wenn man ihm einredet, dass alles noch schlimmer hätte kommen können, als es ohnehin schon ist.
Der erste tröstende Gedanke, der mir einfällt, ist - kein Wunder - hochspekulativ. Die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung organischen Lebens im Universum ist ungefähr so hoch, wie der wöchentliche Hauptgewinn im Lotto ein ganzes Leben lang, gut, vielleicht etwas höher. Dass dieses Leben auch noch seiner Selbst bewusst wird, über sich selbst nachdenkt und über seine Toten trauert, ist gefühlt unmöglich. Dennoch ist es passiert.
Wenn wir schon einmal aus dem Nichts entstanden sind, warum nicht wieder? Das eigentliche Wunder des Lebens besteht nicht im Unwahrscheinlichen, sondern im Unmöglichen - in der sogenannten Emergenz neuer Seinsqualitäten, die aus vorherigem Sein nicht abzuleiten sind. Das Bewusstsein enstand spontan, aber ebenso das Leben, und schließlich auch das Sein. Die Entstehung aus dem Nichts ist Tatsache, also ist das Nichts womöglich nicht so schrecklich und endgültig, wie es uns vorkommt.
Falls das Nichts nach dem Tod jedoch endgültig ist, und kein Toter, in welcher Form auch immer, jemals wiederkommt, wenn wir unsere Toten nie wieder sehen werden, selbst nach unserem eigenen Tod nicht, wenn also weder wir noch die die wir lieben nach dem Tode sein werden, dann wird auch die Trauer und der Verlust nicht mehr sein. Im Nichts werde ich meiner Katze viel näher sein, als ich ihr im Sein jemals sein konnte. Aber auch die Menschen werden nicht zu kurz kommen, ja selbst das Mädchen, in das ich heimlich verliebt war, wird, sobald wir beide tot sind, in Ewigkeit mit mir vereint sein. Selbst wenn es mir nicht wirklich angenehm wäre. Übrigens wird auch Feindesliebe nach einem nihilistenfreundlichen Tod ein Kinderspiel.
Wir sehen, nichts ist einfacher als das Nichts. Nichts vereint und nichts tröstet mehr, als der Trost der absoluten unterschiedslosen Vernichtung. Nachts auf dem Friedhof sind alle Toten gleich. Da ist es doch ein Ärgernis, dass wir laut der christlichen Offenbarung alle wiederauferstehen werden, sogar leiblich. Es wird weiter Streit und Eifersucht und Beziehungsprobleme geben, wir und unsere Liebsten werden uns bzw. sich weiter verändern bis wir sie bzw. sie uns nicht mehr so wirklich lieben. Wo Leben ist, ist Veränderung. Wo Leben ist, ist die Liebe vergänglich. Wer ein ganz Harter ist, wer gern mit der Zigarette im Mundwinkel auf dem Bordstein sitzt und weiß, dass er wieder einmal alles verbockt hat, für wessen Ohren der Satz: "Mann, wir sitzen tief in der Scheiße!" klassische Musik ist, der lasse seine Sucht nach der nihilistischen Schlaftablette heilen und lebe weiter, auch nach dem Tod. Möge jeder von uns das senilsensible Alter erreichen, in dem bereits der Duft frischer Apfelsinen eine Lebensfreude auslöst, die sich mit dem Satz "Nirwana - nein, danke!" ziemlich gut ausdrücken lässt.