Mittwoch, 27. März 2013

Elterliche Macht und Kinderseelenmord




Die politische Macht reduziere den Menschen auf das nackte biologische Leben, den Körper, stellt Giorgio Agamben in seinem Buch "Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben" fest. Der homo sacer sei der der Willkür der Macht unterworfene Mensch: heilig, weil nicht opferbar, und verflucht, weil ihn zu töten kein Mord sei. Nun gibt es nicht nur die politische Macht: die ursprüngliche Erfahrung der Macht macht der Mensch als Kind unter der Macht seiner Eltern durch. Im Paradigma des homo sacer soll die Macht der Eltern über das Kind beleuchtet werden.

Die Eltern können jederzeit nach Belieben dem Kind Schmerzen und Leid zufügen. Die gesellschaftliche Intransparenz der Familie und die entwicklungsbiologische Wehrlosigkeit des Kindes ermöglichen dies. Die Macht der Eltern ist eine Potenz, die jederzeit zum (Gewalt-)Akt übergehen kann, doch nicht übergehen muss. Die Macht ist das Vermögen, zu zwingen, und Gewalt auszuüben.

Die Macht kann souverän und als Vollmacht bestehen: als Letztere betrachtet, geht die Machtausübung der Eltern im Namen der Sittlichkeit so weit, wie es nötig ist, um das Kind zu erziehen, d. h. um es aus der Knechtschaft der Triebe in die menschliche Selbstbestimmtheit zu befreien. Die souveräne Macht der Eltern versteht sich als Macht ohne Verantwortung, und benutzt das Kind als Mittel für eigene Zwecke der Eltern (etwa geliebt zu werden, stolz sein zu dürfen usw).

Was passiert, wenn die Macht der Eltern über das Kind als souveräne Macht verstanden wird, und nicht als von einer höheren moralischen Instanz übertragene Vollmacht? Grundsätzlich erweist sich ein wehrloses Objekt, das nach Belieben als Mittel zum Zweck benutzt werden kann, als unbegrenzt verfügbar. Die souveräne Macht der Eltern kann das Kind nicht als eigenständige Person respektieren, da dieses für die souveräne Macht ein verfügbares Objekt ist, was bedeutet, dass keine Handlung gegenüber dem Kind illegitim sein kann.

Bevor das Kind ein Sexualobjekt werden kann, muss es ein Objekt werden. Ist das Kind ein verfügbares Objekt der elterlichen souveränen Macht, ist ein sexueller Missbrauch eine legitime Handlung wie jede andere, wobei sich ein Objekt streng genommen in einem Bereich außerhalb von Recht und Moral befindet, und darum Kategorien wie moralisch/unmoralisch oder legitim/illegitim nicht mehr greifen. Das Kind ist nun entmenschlicht, aber es ist auch keine Sache. Bevor das unsagbare Verbrechen geschieht, befindet sich das Kind bereits in einem unsagbaren Zustand, der nicht kommunizierbar ist.

Ein 6-jähriges Mädchen erlebt zum ersten Mal einen sexuellen Missbrauch durch den Vater. Das Kind weiß, dass das, was es erlebt hat, nicht normal ist, d h. es empfindet das Verbrechen subjektiv korrekterweise als ein Verbrechen. Da es sich aber unter souveräner elterlicher Macht befindet, kann es diese Erfahrung nicht kommunizieren. Jeder Versuch des Mädchens, diese Erfahrung der Mutter mitzuteilen, wird durch die von der systematisch wegsehenden Mutter in der Unkommunizierbarkeit erstickt. Das Kind empfindet sich nun als etwas, was nicht sein darf, - es kippt um (die authentische Erfahrung war, dass der Missbrauch nicht sein durfte). Das Kind verinnerlicht seine außerrechtliche und außermoralische Situation als weder-Mensch-noch-Sache, und entwickelt mit der Zeit eine Apathie gegenüber dem eigenen Schicksal (was auch als Seelenmord bezeichnet wird).

Der sexuelle Kindesmissbrauch in der Familie wird also durch ein bestimmtes Paradigma der Macht vorbereitet, bevor er verübt werden kann. Durch die kurz skizzierte Entwickung wird deutlich, weshalb sich der Missbrauch bis zu einem Alter vollziehen kann, an dem von dem schon erwachsenen Kind eigentlich gefordert werden müsste, sich endlich zu wehren. Die Psyche des Kindes überschreitet die Schwelle des Normalmenschlichen, und wird in einen Zustand versetzt, in dem sie weder lebt noch tot ist. Viele Opfer behalten den Missbrauch bis zum Tod für sich, einige trauen sich erst nach Jahrzehnten, darüber zu sprechen. So wirkt sich die souveräne Macht der Eltern auf Kinder aus, und hier - bei der Zerschlagung souveräner elterlicher Macht - muss die Missbrauchsprävention ansetzen.