Donnerstag, 28. März 2013

Die goldene und die natürliche Regel




Wer christlich, abendländisch, oder zumindest menschlich sozialisiert wurde, für den haben Denkweisen wie "Was du nicht willst, dass man dir tu..." und Erwartungshaltungen, dass das Gegenüber einem respektvoll begegnet, und auf Güte mit Güte reagiert, eine gewisse Selbstverständlichkeit. Diese ist jedoch sehr trügerisch, sobald der Ort des Geschehens ein anderer ist, als die von allen beäugte Bühne des öffentlichen Lebens. In der Öffentlichkeit handelt auch der widerlichste Schurke vorbildlich, um einen guten Eindruck zu hinterlassen, den er ja dringend braucht, um überhaupt beispielsweise lügen und betrügen zu können.

Der Großteil aller Handlungen spielt sich jedoch nicht im öffentlichen Raum ab. Im Privaten gelten auch andere Gesetze, die amoralischen Gesetze der tierisch-menschlichen Natur. Gutgläubige Menschen neigen dazu, das moralische Menschenbild zu universalisieren, und auch ins Private zu übertragen, wo aber allein die physische, psychische oder situationsbedingte Macht gilt, insofern das Gegenüber nicht selbst eine moralische Persönlichkeit ist, die auch dann das Gute will, wenn ihr keiner dabei zusieht.

Die amoralischen Gesetze der menschlichen Natur sind banal: wer gibt, dem wird genommen; wer nachgibt, wird geschlagen; wer vertraut, wird betrogen; wer Gnade walten lässt, wird Härte spüren müssen. Der zivilisierte Mensch verhält sich spiegelbildlich zu seinem Gegenüber (wie du mir, so ich dir), der tierische Mensch verhält sich komplementär, indem er jede Gelegenheit zu seinem eigenen Vorteil ausnutzt. Dem tierischen Menschen ist es egal, ob der Andere aus Güte oder aus Schwäche davon absieht, ein Übel mit einem Übel zu vergelten. Er sieht nur, dass sein Gegenüber nicht zurückschlägt, und schlägt deshalb noch einmal zu.

Wer in Begriffen wie Gewissen, Schuld, Recht und Gerechtigkeit denkt, ist Idealist. Wer außer der Macht nichts gelten lässt, ist Realist, und wahrscheinlich ein guter Menschenkenner. Für einen moralischen Menschen gibt es nur einen Trost, dass er nämlich unabhängig davon, was er vom Anderen zu erwarten hätte, aus eigener Würde und aus dieser folgenden Selbstverpflichtung immer moralisch handeln würde.

Der amoralische Mensch ist erbärmlich trostlos, da er nie über das Gegebene hinaus ist, niemals sich selbst genügt, und keinen Grund hat, nur die geringste Selbstachtung aufrechtzuerhalten. Der moralische Mensch kann den hohen Wert seiner Person selbst im erniedrigendsten Zustand bewahren, der amoralische Mensch ist nie über den hedonistischen Wert seines Zustands hinaus.

Das Leiden eines moralischen Menschen erzwingt über das natürliche Mitgefühl hinaus noch Achtung, weil er standhaft bleibt, und keine Besserung seines Zustands durch verwerfliche Handlungen erkauft. Das Elend eines amoralischen Menschen erregt nur Ekel, der selbst das natürliche Mitleid zunichte macht, wenn die Erfahrung einen früh genug gelehrt hat, dass dieser die rettende Hand sogleich abreißen und seinem Retter die gute Tat bei der ersten Gelegenheit mit einer bösen vergelten würde.