Kants Alptraum! Warum soll meine Maxime allgemeines Gesetz werden können? Gibt es etwas creepieres? Und Aristoteles mit dem Satz des zu vermeidenden Widerspruchs: Systemphilosophen, gebt doch einfach zu, dass ihr Autisten seid, und mit der Unordnung in der Natur nicht zurechtkommt! Aber: die Natur kann nichts dafür.
Sie ist die Tochter einer lunaren
Mutter. Die chthonische Mutter ist die radikalfeministische Kybele, der
Männer in vorauseilendem Gehorsam als Kastraten dienen. Die tellurische
Mutter ist die langweilige und etwas schwermütige Demeter, die
beständige und zuverlässige Göttin der Landwirtschaft. Leto ist die
lunare Mutter der Artemis.
Materie: Schwerstgeburten, Missgeburten, Monster. Das ist die Welt der Kybele. Jahreszeiten: Saat, Wachstum, Ernte. Damit auch sie etwas Drama hat, wurde Demeters Tochter Persephone entführt. Mit Hades ist sie übrigens glücklich; das einzige glückliche Paar der griechischen Göttermythologie. Begehrtwerden, Entführtwerden, Beschütztwerden: Leto ist ganz Frau, schwelgt in aphroditischer Weiblichkeit, ohne selbst das mühsame Geschäfte der Geschlechtsliebe besorgen zu müssen. Ihr Beitrag sind ihre solaren Kinder, das Licht der Welt.
Artemis ist Letos Tochter, ewig junge Göttin der Jagd und der Jungfräulichkeit. Sie steht für die unschuldige und unbekümmerte Natur. Sie ist dionysisch, lunar, nicht wie ihre solaren Geschwister, die die Vernunft, nicht die Natur verkörpern. Athene und Apollo sind die Götter der Kultur: Staatskunst, Wissenschaft, Kunst. Mit dem lunaren Ares kommt die Kriegskunst hinzu. Der ebenfalls lunare Hermes ist der Henry Kissinger des Olymps, er steht für die Kunst der Diplomatie. Doch mit dieser Welt der Menschen hat die freiheitsliebende, wahrhaft starke und unabhängige Frau Artemis nichts zu tun.
So arbiträr wie es nur geht, von Lust und Langeweile geleitet, SP/NF-Temperament (sinnlich/wahrnehmend, aber auch intuitiv/fühlend), selbstgenügsam, unprätentiös lesbisch, lesbische Jungfrau, umgeben von jungfräulichen Nymphen des Waldes, hat ihr Dasein keinen ihr selbst äußerlichen Sinn. Sich selbst gegenüber erfüllt Artemis den kategorischen Imperativ bestens: sie lässt sich nicht als Mittel für Zwecke anderer einspannen. Bei der berüchtigten Frivolität der altgriechischen Götterwelt besteht Artemis felsenfest auf ihrer Jungfräulichkeit und bestraft hammerhart Gefährtinnen, die diese verlieren.
Das Reich der Naturnotwendigkeit
(Demeter, tellurisch) und der system(at)ischen Kulturschöpfung (diverse
Götter, solar) neigen zur Eliminierung der Freiheit: entweder wird die
Individualität von vorn herein untergeordnet oder sie ist nur da, um
transzendiert zu werden, in Größerem aufzugehen. Doch ohne das Einzelne
ist das Allgemeine, das Ganze, für niemanden da. Artemis ist die
Gottheit des Besonderen, der Einzel(n)heit, die sich nicht unter Gesetze
subsummieren lässt, nicht in Schubladen packen, nicht einordnen, und
selbst ihre Einordnung in der anthropologischen Trias ist nur in der
Relation zu anderen Aspekten der Trias sinnvoll.
Die verspielte lockende Jägerin macht
verliebt und läuft weg, ist über- und unterirdisch (wurde auch mit der
Hekate identifiziert), regellos und grausam streng. Keineswegs steht
ihre Widersprüchlichkeit für ein Krankheitsbild wie Bipolarität oder
Narzissmus; auf der autistisch-schizophrenen Männlich-Weiblich-Skala ist
sie sicherlich dem schizophrenen Spektrum zuzuordnen, wobei sie sich
souverän an dessen Rand aufhält, fast in der Mitte, sodass keine
Gesetze, auch die der Weiblichkeit, für Artemis wirklich gelten.