Sonntag, 24. Oktober 2021

Umgang mit Verbitterten

 

 

 

Gegen wen sich die Gewalt der Verbitterten richtet, entscheidet die kulturelle Prägung. Das christliche Abendland erfand den Antisemitismus als Ventil des Volkszorns. Es gab in der Geschichte des Christentums unzählige Judenvertreibungen und Pogrome, der Schaden hielt sich aber in Grenzen (einen systematischen Völkermord gab es nie). Die Verbitterung in Deutschland und einem Teil Mitteleuropas nach dem 1. Weltkrieg war jedoch so groß wie bisher noch nie, und das führte zu bis dahin unvorstellbarem kollektiven Massenmord.

Wodurch entsteht Verbitterung? Durch unverarbeitete Frustrationen. Frust entsteht durch negative Erlebnisse, die Verweigerung der Verarbeitung entsteht durch Anspruchshaltung. Wer in der Anspruchshaltung lebt (Die Welt ist mir etwas schuldig!), der erwartet nach einem negativen Erlebnis spontane Wiedergutmachung von außen. Ein Mensch in der Anspruchshaltung, der selbst ein frustrierendes Ereignis in seinem Leben verschuldet, erwartet spontane Hilfe oder Rettung.

Ein Beispiel: Jemand war ein Arschloch und ist verlassen worden. Er erwartet, dass der durch sein Verhalten Geschädigte ohne Bitte um Verzeihung selbst wieder auf ihn zukommt und alles vergisst. Von Verzeihung will er nichts wissen, geschweige denn um Verzeihung bitten; er erwartet als eine Selbstverständlichkeit, dass alles wieder gut ist, nur weil Zeit vergangen ist. Vergeht die Zeit und passiert nichts, wächst die Verbitterung. Verweigern der Verantwortung, Leugnen der Schuld, und das multipliziert mit einer achtstelligen Zahl an Menschenleben: so entsteht das Bedürfnis nach einer radikalen Endlösung am Sündenbock.

Was ist der richtige Umgang mit Verbitterten? Kälte und Härte. Verständnis und Zärtlichkeit nur bei Demut und wehrlos offenbarter Schwäche. Wer die Verbitterung mit Bestätigung füttert, züchtet Verbitterungstäter. Derzeit existiert eine Verbitterungsindustrie, die je nach sozialer Gruppenzugehörigkeit jedem Verbitterten die Bestätigung gibt, dass irgendwelche anderen an ihrem Unglück schuld sind. Der Sündenbock wird dehumanisiert, seine Unterwerfung oder Vernichtung wird angestrebt (Incels wollen Frauen versklaven, ein breites Spektrum an linken Aktivisten will alle weißen Männer töten; kollektive Wahnvorstellungen einer jüdischen Verschwörung, befeuert durch Christentum und Islam, sind heute genauso verbreitet wie zwischen den Weltkriegen).

Der Verbitterte darf nicht in verlogenen Verbitterungskollektiven Zuflucht finden, er muss vereinsamt werden und an seiner individuellen Verbitterung zusammenbrechen. Einzelne Suizide sind besser als kollektiver Massenmord. Das Leiden muss den festen Aggregatzustand verlassen und sich verflüssigen. Individualisierte psychotherapeutische Hilfe muss geleistet werden, kollektive Lösungen sind zu vermeiden. Vielmehr muss positive (nicht negative, verbitterungsbasierte) soziale (Re-)Integration bei erfolgreichem Verarbeitungsprozess in Aussicht gestellt werden.

Nicht-Verbitterte sollten keine Schuldgefühle gegenüber Verbitterten empfinden, dies wäre nur narzisstisches Futter für die Verbitterung. Es gibt keinen Weg aus der Verbitterung als durch individuelle Verzweiflung.

Antisemitismus heute

 

 

 

Ein ehemaliger Bundesminister und Vizekanzler behauptete, als er keiner mehr war, Juden wie der Fernsehmoderator Michel Friedman würden den Antisemitismus fördern. Doch wie kann das Benehmen eines einzelnen Juden dazu führen, dass das z. B. deutsche Volk, das eigentlich nichts gegen Juden hat, auf einmal doch etwas gegen Juden hat? Selbst nach 21 Jahren Putin wird diesem, nicht bloß einem medial präsenten Russen, sondern dem in Russland herrschenden Autokraten, kaum vorgeworfen, er würde weltweit oder in einzelnen Ländern die Russophobie fördern. Die Volkszörner bewerten Netanjahu jedoch anders: viele rechtfertig(t)en ihren Antisemitismus mit seiner Politik.

Kein anderer Konflikt des 20. und 21. Jahrhunderts wurde als Ausrede genommen, um ein bestimmtes Volk zu verurteilen und diesem das Recht auf einen eigenen Staat abzusprechen. Nur der Palästina-Konflikt führt dazu, dass das Existenzrecht Israels in Frage gestellt wird und antjüdische Stimmungen und Demonstrationen weltweit geduldet und mit Verständnis gesehen werden. Selbst die UNO, als Organ des Weltfriedens gedacht, ist ein Quatschclub antisemitischer Schurkenstaaten.

Nach Jahrzehnten Holocaust-Amnesie wurde in Deutschland nicht mit der Aufarbeitung der Judenvernichtung, sondern mit der Verurteilung Israels in den Kriegen mit seinen arabischen Nachbarn begonnen. Die Nachhilfe für die Shoah-Aufarbeitung kam aus Hollywood; mehr als 40 Jahre nach den Ereignissen sahen viele junge Deutsche in einer Fernsehserie ("Holocaust") zum ersten Mal, was damals geschah.

In diesem Jahr gab es in Berlin offen judenfeindliche Kundgebungen. Sie wurden vom Staat toleriert mit dem Argument, sie zu verbieten, sei islamophob. So werden immer irgendwelche vermeintlichen Opfergruppen hervorgeholt, um sie im passenden Moment gegen die Juden auszuspielen.

Deutsche Hitler-Vergleiche

 

 

 

Im Land der Holocaust-Amnesie der Aufarbeitungs-Weltmeister werden Staatschefs anderer Länder gern mit Hitler verglichen:

1991: Saddam Hussein. Der irakische Diktator überfiel die amerikanische Vassall-Petrokratie Kuwait und ermordete Kurden im eigenen Land. Ja, ein Tyrann und Kreigsverbrecher. Aber, nachdem der Aufstand niedergeschlagen war, hat er etwa versucht, alle Kurden im Irak auszurotten? Das zum Beispiel hätte einen Hitler-Vergleich wahr gemacht, denn der deutsche Diktator begnügte sich nicht mit der Niederschlagung von Aufständen, sondern war manisch besessen von der Ausrottung der Juden.

2002: George W. Bush. Der US-amerikanische Präsident griff auf seinem Kreuzzug gegen die "Achse des Bösen" Afghanistan und Irak an. Das erklärte Ziel war die Bekämpfung der islamistischen Terrororganisation Al-Kaida (mit der der Irak nichts zu tun hatte). Nach der Eroberung dieser Länder versuchte er, aus diesen künstlich Demokratien nach dem Vorbild der USA zu machen, was scheiterte. Die Kriege kosteten Hunderttausende Todesopfer, gleichwohl war dies mit keinem absichtlichen oder geplanten Massenmord verbunden.

2014: Wladimir Putin. Der russische Autokrat besetzte nach dem Putsch in der Ukraine die Krim, um den Stützpunkt der russischen Flotte im Schwarzen Meer zu sichern. Ein geostrategisch notwendiger Zug; dass es so weit kommen musste, verschuldete er durch die jahrelange Unterstützung des korrupten ukrainischen Präsidenten Janukowitsch. Die Unterdrückung der russischen Minderheit in der Ukraine nach dem Putsch provozierte die Sezession eines Gebiets im Osten der Ukraine, das mehrheitlich von ethnischen Russen bewohnt ist. Putin unterstützte die Sezession mit der Entsendung von Paramilitärs.

...und wo ist Hitler? Warum kommt der Hitlervergleichs-Reflex bei geringsten Anlässen auf? Auch andere Länder kritisieren andere Länder, doch nirgendwo sonst verselbstständigt sich solch ein extremistischer, hassbasierter, manichäischer Diskurs, außer dort, wo die Regierungspropaganda diesen befördert (in Autokratien und Diktaturen). Ist Deutschland politisch eine Demokratie, aber psychopolitisch eine Diktatur?

 

 

Donnerstag, 7. Oktober 2021

Gespaltene Gesellschaft und Covid 19

 

 

 

Betrachten wir unsere Beobachtungen der letzten zwei Jahre, so ist das kein Wunder, sondern lediglich das Gesetz des Faschismus, das bei der Bundestagswahl 2021 zum Erfolg der Blockparteien und Misserfolg der Protestparteien führte (AfD und die Linke verloren ein Drittel der Stimmen gegenüber der Wahl von 2017). Der Verlierer der letzten zwei Jahre ist die Gesellschaft, der Sieger ist der Staat.

Im Oktober 2019 lief der Film "Joker" weltweit in den Kinos, mit phänomenalem Erfolg. Er verkörperte wie kein anderes Medienereignis die Spaltung der westlichen Gesellschaften. Er inspirierte auch reale Proteste auf realen Straßen realer Länder und es war nur eine Frage der Zeit, wann sich die Proteste ausweiten und radikalisieren würden. Die linksgrünen Gutmenschen hatten Glück: die Saturnalien wurden nicht beendet, der Konflikt zwischen den Superreichen plus Lakaien und den real people wurde durch eine Reihe von Lockdowns eingefroren.

Covid-19 war der globale Sieg des Staates: Ausnahmezustands-Demokratien im Westen, Autokratien wie Russland und China und sogar Despotien wie Weißrussland gingen aus der Corona-Krise gestärkt hervor. Die westlichen Gesellschaften wurden durch die Staatsgewalt zu autoritären Gesundheitsregimes transformiert, die Gesellschaften unfreier Länder wurden ohne große Anteilnahme der zivilisierten Welt niedergeknüppelt. Willkürliche Verhaftungen, Giftanschläge und Morde: Russland und seine Verbündeten wahren nicht einmal mehr den Schein freiheitlicher Werteordnung. Der Faschismus ist weltweit auf dem Vormarsch.

Der Neoliberalismus ist nichtsdestotrotz am Ende, auch fünf Jahre Lockdown werden seine Krise nicht rückgänging machen. Entweder setzt sich der autoritär-faschistische Trend global fort, oder es kommt zu einer neuen Sozialdemokratisierung, wie schon 1949-1979, nur diesmal mit dem klimapolitischen Narrativ. Somit werden entweder rechtspopulistische Parteien wie FN oder AfD von der Realität rechts überholt, oder die Linken in den sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien werden links überholt. Das wird im Rückblick zeigen, wie erbärmlich beide Enden des politischen Spektrums gezaudert haben, wie feige sie sich an das politische overton window der neoliberalen Weltordnung (1979-2019) angepasst haben, und wie zukunftsunfähig ihre Vor- und Nachdenker sind.