Gegen
wen sich die Gewalt der Verbitterten richtet, entscheidet die
kulturelle Prägung. Das christliche Abendland erfand den Antisemitismus
als Ventil des Volkszorns. Es gab in der Geschichte des Christentums
unzählige Judenvertreibungen und Pogrome, der Schaden hielt sich aber in
Grenzen (einen systematischen Völkermord gab es nie). Die Verbitterung
in Deutschland und einem Teil Mitteleuropas nach dem 1. Weltkrieg war
jedoch so groß wie bisher noch nie, und das führte zu bis dahin
unvorstellbarem kollektiven Massenmord.
Wodurch entsteht Verbitterung? Durch unverarbeitete Frustrationen. Frust
entsteht durch negative Erlebnisse, die Verweigerung der Verarbeitung
entsteht durch Anspruchshaltung. Wer in der Anspruchshaltung lebt (Die
Welt ist mir etwas schuldig!), der erwartet nach einem negativen
Erlebnis spontane Wiedergutmachung von außen. Ein Mensch in der
Anspruchshaltung, der selbst ein frustrierendes Ereignis in seinem Leben
verschuldet, erwartet spontane Hilfe oder Rettung.
Ein Beispiel: Jemand war ein Arschloch und ist verlassen worden. Er
erwartet, dass der durch sein Verhalten Geschädigte ohne Bitte um
Verzeihung selbst wieder auf ihn zukommt und alles vergisst. Von
Verzeihung will er nichts wissen, geschweige denn um Verzeihung bitten;
er erwartet als eine Selbstverständlichkeit, dass alles wieder gut ist,
nur weil Zeit vergangen ist. Vergeht die Zeit und passiert nichts,
wächst die Verbitterung. Verweigern der Verantwortung, Leugnen der
Schuld, und das multipliziert mit einer achtstelligen Zahl an
Menschenleben: so entsteht das Bedürfnis nach einer radikalen Endlösung
am Sündenbock.
Was ist der richtige Umgang mit Verbitterten? Kälte und Härte.
Verständnis und Zärtlichkeit nur bei Demut und wehrlos offenbarter
Schwäche. Wer die Verbitterung mit Bestätigung füttert, züchtet
Verbitterungstäter. Derzeit existiert eine Verbitterungsindustrie, die
je nach sozialer Gruppenzugehörigkeit jedem Verbitterten die Bestätigung
gibt, dass irgendwelche anderen an ihrem Unglück schuld sind. Der
Sündenbock wird dehumanisiert, seine Unterwerfung oder Vernichtung wird
angestrebt (Incels wollen Frauen versklaven, ein breites Spektrum an
linken Aktivisten will alle weißen Männer töten; kollektive
Wahnvorstellungen einer jüdischen Verschwörung, befeuert durch
Christentum und Islam, sind heute genauso verbreitet wie zwischen den
Weltkriegen).
Der Verbitterte darf nicht in verlogenen Verbitterungskollektiven
Zuflucht finden, er muss vereinsamt werden und an seiner individuellen
Verbitterung zusammenbrechen. Einzelne Suizide sind besser als
kollektiver Massenmord. Das Leiden muss den festen Aggregatzustand
verlassen und sich verflüssigen. Individualisierte psychotherapeutische
Hilfe muss geleistet werden, kollektive Lösungen sind zu vermeiden.
Vielmehr muss positive (nicht negative, verbitterungsbasierte) soziale
(Re-)Integration bei erfolgreichem Verarbeitungsprozess in Aussicht
gestellt werden.
Nicht-Verbitterte sollten keine Schuldgefühle gegenüber Verbitterten
empfinden, dies wäre nur narzisstisches Futter für die Verbitterung. Es
gibt keinen Weg aus der Verbitterung als durch individuelle
Verzweiflung.