Donnerstag, 19. Oktober 2017
Langeweile
Ich sitze vor dem PC und trinke Tee. Mir ist langweilig. Ich quäle mich durch den Abend. Auf einmal ist es, als hätte jemand einen Zauberknopf gedrückt: ich sitze vor dem PC und trinke Tee. Ich bin glücklich. Was ist los? Und was war los? Warum wird eine für den äußeren Beobachter identische Situation mal als langweilig, mal als lebenslocker empfunden? Nein, locker ist hier keine Schraube, und mystisch ist daran zunächst noch nichts.
Wer sich langweilt, weiß nicht, was er gerade tun soll. Doch es gibt immer mehr zu tun, als man Lebenszeit hat. Das ist das Problem: man kann keine Prioritäten setzen. Nun gibt es Menschen, die das können. Ich kann das, doch ich langweile mich durch den Abend. Wieso? Ich könnte alles mögliche tun, aber das dringendste Bedürfnis, den sexuellen Harndrang, kann ich derzeit nicht befriedigen. Ich bin zu müde dafür, aber wegen der Geilheit zu unkonzentriert, um an etwas anderes zu denken. Doch ich kann den Schalter von einem Moment auf den nächsten umlegen: ich beschließe, dass ich jetzt einfach mal Tee trinke.
Wie schaltet man quälende Bedürfnisse, die man gerade nicht befriedigen (oder nicht befriedigend befriedigen) kann, aus? Nicht indem man sie verdrängt oder versucht, sich abzulenken. Indem man Wachsamkeit übt. Ich weiß, was mir fehlt. Und jetzt trinke ich Tee.
Wer meint, glücklich sei derjenige, der seine Bedürfnisse stets befriedigen kann, der irrt: Bedürfnisse regenerieren sich, werden immer mehr, immer anspruchsvoller. Machen wir uns nichts vor: wir sind alle drogensüchtig. Essen, Trinken, Sex, Vergnügen, Unterhaltung, Selbstmitteilung, Selbstdarstellung, Selbstverwirklichung: jeder ist süchtig danach, oder zumindest abhängig davon. Gäbe es eine Pille gegen den Hunger mit allen vom Körper benötigten Nährstoffen: kaum jemand würde sie nehmen. Gäbe es eine Pille, die den Sexualtrieb direkt im Gehirn stillen würde, keiner würde sie schlucken. Der menschliche Organismus ist in einem serotonergen Teufelskreis aus Sucht und Befriedigung gefangen.
Es geht aber gar nicht darum, alle Bedürfnisse für immer zu befriedigen. Das kann höchstens der Tod leisten. Es geht darum, im Jetzt wachsam zu sein, seinen Willen von allen möglichen Objekten der Lust zurückzuziehen, und Tee zu trinken.
Wer sich langweilt, gleicht Tantalos in der Unterwelt, oder aber Buridans Esel. Tantalos steht für den von quälenden Bedürfnissen heimgesuchten Menschen, der auf seine Objekte der Lust die ganze Zeit fixiert ist, sie aber niemals zum Greifen bekommt. Buridans Esel kann sich zwischen zwei gleichen Haufen Heu nicht entscheiden und verhungert. Die Langeweile ist kein entspannter Zustand des Nichtstuns, sondern ein verspannter, verkrampfter Zustand der Fixierung auf alles mögliche und nichts bestimmtes. Da hilft nur der Rückzug in sich selbst und eine Tasse Tee.