Samstag, 11. August 2018
Die Würde des Menschen
"Die Würde des Menschen ist unantastbar", so der allererste Satz im Grundgesetz der BRD. Um dieser Verpflichtung Folge leisten zu können, muss die Politik, die Gesellschaft und schliesslich jeder Einzelne wissen, was denn genau die Würde des Menschen ist. Die Würde des Menschen ist nicht empirisch nachweisbar, sie liegt jenseits des Reichs der Naturwissenschaften, im Reich der Ideen, das ausschliesslich in der individuellen sowie kollektiven Phantasie, und nirgendwo sonst, existiert. Das Reich der Ideen ist uns durch unser Selbstbewusstsein zugänglich. Wir nehmen nicht nur die Aussenwelt mit ihren Reizen und unsere Körper mit ihren Bedürfnissen, Lüsten und Schmerzen wahr, wir wissen auch noch, dass wir sie wahrnehmen. Der Mensch ist das einzige uns bekannte Lebewesen, das um seine Existenz weiss, aber ebenso weiss der Mensch um seine Sterblichkeit. Da niemand vor seiner Geburt existiert hat, kann sich niemand seine Nichtexistenz vorstellen, denn alle Vorstellung ist ausschliesslich durch die Erfahrung innerhalb der konkreten materiellen Existenz entstanden. Der einzelne Mensch weiss um seine Sterblichkeit und kann sich zugleich die Welt ohne seine Existenz nicht vorstellen. Der Zustand nach dem Tode ist mehr als nur unbekannt, es wird niemals eine Kenntnis dieses Zustandes existieren. Dies steigert die Angst vor dem Tode als eine dem menschlichen Geist immanente Furcht vor dem Unbekannten ins Unendliche.
Der Tod darf nicht sein obwohl er unvermeidlich ist. Das Leben wird angesichts des Todes zum höchsten Gut und die Erhaltung des Lebens zu seinem Sinn. Der Sinn des Lebens ist der letzte Zweck desselben, über welchen kein Zweck mehr gedacht werden kann, und welcher daher als letzter Zweck nur Zweck und nicht zugleich Mittel zu einem weiteren Zweck ist. Der todesbewusste Mensch lebt, um den Tod zu überleben, und weiss im Gegensatz zum Tier, welches instinktiv dasselbe Ziel verfolgt, dass ihn irgendwann der Tod doch ereilen wird und dass sein Lebenszweck damit absurd ist. Der Mensch braucht also eine Idee, die den Tod transzendiert, und ihn trotz des unvermeidlichen Todes weiter leben lässt. So denkt er sich eine unsterbliche Seele aus und konstruiert einen Gott, damit die selbst ausgedachte Seele nicht mehr die selbst ausgedachte Seele, sondern von einem allmächtigen Wesen geschaffene und damit wirklich unsterbliche Seele ist. So scheint es. In Wirklichkeit aber bedarf der Mensch einen Gott aus anderen Gründen. Er weiss, woher die Idee der unsterblichen Seele kommt, und keine Erweiterung dieser Idee um etwa einen allmächtigen Schöpfer vermag diese Vorstellung real werden zu lassen. Egal ob sich der Mensch einen Gott vorstellt oder nicht, er wird sterben. Und er will nicht sterben. Die beste Voraussetzung für das Nichtsterben ist der Frieden, welcher nur dann erreicht ist, wenn alle Menschen denselben ethischen Grundsätzen folgen. Wie ist dies zu erreichen? Am Besten durch die Imagination eines Schöpfers, des allmächtigen Gottes, eines Richters, der die Seele nach dem Tod entlohnt oder bestraft. Das Gesetz, nach welchem der Mensch durch seinen Gott gerichtet wird ist dasjenige Gesetz, welches am Besten für den Menschen selbst ist. Es ist das Gesetz der Wahrung und Erhaltung des Lebens, das Gesetz der Nächstenliebe, das Gesetz, welches aus der Lebensrettung die grösste Tugend macht, die ein Mensch praktizieren kann. Ein allmächtiger Gott wird zum Zweck der moralischen Institutionalisierung des Lebenserhaltungsprinzips konstruiert.
Der Mensch ist von Natur aus egoistisch wie jedes andere Tier. Ein konsequenter Egoismus kann lebensgefährliche Konflikte verursachen, welche um den Zweck der Wahrung des Lebens dringend zu vermeiden sind. Der Einzelne muss sich als zu einem Kollektiv zugehörig empfinden, wodurch er ersten sich selbst in Lebenssicherheit wähnt und zweitens das Nichtsterben der Anderen durch ihr Nichttöten garantiert. Der Humanist braucht für die Errichtung eines solchen Kollektivs keinen Gott, er erfasst die rationalen Gründe der Vorteile des Gemeinsinns gegenüber dem Eigensinn und bringt die Idee der Menschheit hervor. Das Tötungsverbot kommt nun nicht mehr von einem personifizierten jenseitigen Gott, es wird vom neuen Gott, der Idee der Menschheit, abgeleitet. Die Idee der Menschheit aber neigt dazu, den Einzelnen dem Kollektiv unterzuordnen, so dass im Falle eines Interessenkonflikts zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv der Einzelne aufgeben muss, und es kann in einem extremen Fall das Aufgeben des Lebens gemeint sein. Ist die Tötung von einem oder mehreren Individuen für eine Gemeinschaft vorteilhaft, so ist sie geboten. Wie kann der Einzelne sicher sein, niemals zu diesen Opfern an den Gott Menschheit gehören zu müssen? Der Einzelne kann dessen nur relativ sicher sein, zu einer absoluten Sicherheit verhelfen weder Besitz noch Macht. Es bedarf einer neuen Idee, die dem utilitaristischen Gemeinsinn übergeordnet ist. Diese Idee muss jedes Individuum vor jedem anderen Individuum und der Gemeinschaft, sowie die Gemeinschaft vor jedem Individuum schützen. Diese Idee muss den absoluten Verbot des Tötens postulieren. Es ist die Idee der Würde des Menschen. Ein Mensch darf nicht getötet werden, weil er ein Mensch ist, und einen Menschen ist die Menschenwürde immanent.
Der Selbsterhaltungstrieb ist der grundlegende Trieb, ohne welchen der Fortpflanzungstrieb und der Ernährungstrieb nicht denkbar wären, weil sie der Selbsterhaltung als Voraussezung für ihre Entfaltung bedürfen. Der Verstand befriedigt den Selbsterhaltungstrieb, indem er der Selbsterhaltung auf eine besonders anspruchsvolle Art dient. Er universalisiert das Prinzip der Selbsterhaltung und schützt das Leben in einem viel umfangreicheren Masse, als es etwa den nicht selbstbewussten Lebewesen möglich ist. Er konstruiert die Würde des Menschen als eine vermeintlich dem Leben übergeordnete, in Wirklichkeit dem Zweck der Lebenserhaltung dienende Idee.
Der Mensch erkennt seine Würde weder aus der Natur noch aus der Selbstreflexion, er konstruiert sie zum Zweck der Selbsterhaltung. Was ist aber die Würde? Worin besteht sie? Sie besteht hauptsächlich in der Selbstbewusstheit, in der Ich-Empfindung, die der Mensch als einziges Lebewesen zu vernehmen vermag, die keine natürlichen Grenzen kennt und daher regelrecht in einer Hybris mündet, die Unsterblichkeit, absolute Glückseligkeit und schliesslich Erhabenheit über die ganze restliche Welt zu fordern weiss. Die Würde des Menschen besteht in der empfundenen Unmöglichkeit des Ich-Todes, in der Wahnvorstellung der Unsterblichkeit, die uns allen immanent ist und daher keine Wahnvorstellung mehr ist. Sie ist Religiosität, Moralität, Menschlichkeit. Die Würde des Menschen ist unantastbar- weil meine Würde unantastbar ist, und weil ich ein Mensch bin.