Montag, 22. Januar 2018

Furcht und praktische Vernunft





In der Kritik der praktischen Vernunft zeigt Kant, dass der Wille frei ist, und vermeintliche Sachzwänge oder mit einem durchgehende Pferde keine Ausreden sein können: "Setzet, daß jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgibt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: ob, wenn ein Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen, er alsdenn nicht seine Neigung bezwingen würde. Man darf nicht lange raten, was er antworten würde".

Die Todesdrohung widerlegt also die Unwiderstehlichkeit offener Haare und kurzer Röcke. Niemand ist ein Vergewaltiger, der nicht aus freiem Willen ein Vergewaltiger sein will. Damit ist die Herrschaft der Triebe und Neigungen über den Menschen widerlegt. Doch Kant genügt das noch nicht - er geht noch weiter, und zeigt, dass die praktische Vernunft dagegen sehr wohl zwingend ist: "Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm, unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe, zumutete, ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es tun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urteilet also, daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre".

Wir sind nicht gezwungen, zu tun, was unsere Triebe verlangen, aber wir sind innerlich verpflichtet, zu tun, was das moralische Gesetz uns befiehlt. Wer ungeachtet der Todesdrohung im Galgenbeispiel Unzucht treibt, wird hingerichtet, und das weiß er. Dennoch kann er sich für seine Wollust entscheiden, denn sein Wille ist frei. Wer ungeachtet der moralischen Verpflichtung eine Falschaussage macht, wird vom Gewissen gequält, und auch das kommt mitnichten überraschend. Der freie Wille bedeutet auch freie Willkür: man kann, was man soll, aber man muss nicht.

Woher kommt aber dieses Faktum der Vernunft, dass man immer weiß, was man tun soll, und auch noch weiß, dass man es tun kann, - dass es einem möglich ist, und keine Zauberkräfte erfordert? Kant beiseite, lassen wir Religion walten, vergessen wir die Vernunft. Wurden wir nicht alle so erzogen, dass wir eine immanente Todesdrohung empfinden, wenn wir nicht tun, was wir tun sollen? Ist die innere Verpflichtung durch das moralische Gesetz nicht bloß eine tiefe Furcht vor der Verdammnis? Ich weiß nicht, ich wurde atheistisch erzogen. Und seltsamerweise besteht ein notwendiger Zusammenhang zwischen ausgerechnet dem hochabstrakten moralischen Gesetz und der äußerst konkreten Furcht, in die Hölle zu kommen. Das kann kein Zufall sein. Zeitlich früher mag die Höllenfurcht gewesen sein, logisch früher ist das Faktum der Vernunft, dass man immer frei ist, zu tun, was man soll, und dass man nicht leugnen kann, dies zu wissen.