Montag, 6. November 2017

Suizid entspannt betrachtet





Man stelle sich Folgendes und noch Folgenderes vor: es ist menschlich eng und zwischenmenschlich schwül, die Stimmung ist gereizt, wie an Weihnachten, und die Familie ist kurz davor, am Hass, der sie all die Jahre zusammengehalten hat, zu zerbrechen. Da kommt auf einmal einer, egal wer, aus dem Badezimmer angerannt, und berichtet, dass einer, egal wer, tot in der Badewanne liegt, und neben ihm eine Rasierklinge. Endlich dürfen all die aufgestauten Gefühle raus, die, wenn sie ohne Anlass mitgeteilt worden wären, für großen Ärger gesorgt hätten; nun aber darf all die Wut aufeinander, all die Enttäuschung, Frust, Trauer, alles ans Licht, und keiner sagt jetzt, du sollst dich nicht so anstellen, im Gegenteil, man wird verstanden und getröstet, denn man hat soeben einen Angehörigen an den Suizid verloren.

Ach ja, der Suizid. Meist werden die Leute bei dem Thema sehr emotional: da meldet sich das limbische System, der tierische Teil des Hirns. Der menschliche Teil des Hirns wird ausgeschaltet, wo gerade bei diesem Thema Menschlichkeit doch angebracht wäre.

Mag sein, dass der Suizid ein Weglaufen vor Problemen ist, aber das wahre Problem so vieler Menschen ist, dass sie vor dem Suizid weglaufen. Sie tun einfach irgendwas, einfach um sich nicht umzubringen: einfache Menschen, die es sich zu einfach machen.

Nirgendwo sind Mut und Feigheit so nah beieinander wie im Suizid: zu feige, sich als z. B. homosexuell oder z. zweiten B. als Missbrauchsopfer zu outen, fasst man den Mut zum Freitod. Ja, Freitod, nicht Selbstmord: der Suizid ist ein Fest der Freiheit. Der Verzweifelte, dessen Selbstwertgefühl bodenlos versunken ist, hat im Moment des Entschlusses zum Suizid die Macht über Leben und Tod; der von Situationen, Beziehungen und Problemen Versklavte ist ein stolzer freier Mensch, der selbst entscheidet, all dem, was ihm das Leben zur Hölle macht, vorauseilenden Gehorsam zu leisten, und sich umzubringen.

Die wenigsten Menschen werden so edel sein, sich ohne äußeren Grund das Leben zu nehmen, - etwa aus der Einsicht, genug gelebt zu haben, und aus der Willenskraft, das eigene Leben wirklich frei und selbstbestimmt abzuschließen. Wer sich umbringen will, befindet sich in der Regel in einer subjektiv (und allzuoft auch objektiv) ausweglosen Situation, und es ist aufgrund der natürlichen Neigung aller Lebewesen, sich am Leben zu erhalten, sowie der angeborenen Frucht vor dem Tod und der Angst vor dem Sterbeprozess davon auszugehen, dass der angehende Selbstmörder alle alternativen zum Suizid erschöpft, bevor es sich entschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Die Befindlichkeiten Hinterbliebener nach einem Suizid lassen sich in den Vorwurf "Warum hast du uns das angetan?" zusammenfassen. Der egoistischen Ansicht von Eltern, Lebenspartnern, Kindern oder Freunden nach hat der sogenannte Selbstmörder nicht sein eigenes Recht auf Leben (welches ein Recht auf einen selbstbestimmten Tod beinhaltet) wahrgenommen, sondern eine ihnen nahestehende Person ermordet: ihr Kind, ihren Lebenspartner, ihren Verwandten oder Freund. Dass solche Besitzansprüche auf einen Menschen dem Zeitalter des Sklaverei angehören und gegen das Recht auf Leben verstoßen, ist leicht einzusehen, aber von der nihilistischen Annahme der objektiven Nichtigkeit aller Rechte und der Relativität aller ethischen Urteile ausgehend, darf nur eine Kritik der Befindlichkeit der Hinterbliebenen geführt werden.

Der Sohn, der Lebenspartner, die Mutter eines an Suizid Gestorbenen ist untröstlich traurig, was ihm als Folge seiner Tat vorgeworfen wird. Wie traurig muss aber ein Mensch sein, der sich selbst das Leben nimmt? Jedenfalls viel trauriger als die Hinterbliebenen, deren Trauer sich im Weinen und Gedenken leicht erschöpft, - und täte es sie nicht, wäre ihr Leben so unerträglich geworden, dass sie ihm ins Grab gefolgt wären. Wer als Angehöriger eines sogenannten Selbstmörders diesem seine Gefühle zum Vorwurf macht, beleidigt die Gefühle des Unglücklichen, indem er ihm einen emotional nicht hinreichenden Grund für den Freitod vorwirft: wer es sich psychisch leisten kann, an seine Angehörigen zu denken, ist in der Tiefe seiner Trauer noch nicht so weit, sich umbringen zu können. Wenn sich jemand aber selbst getötet hat, so ist davon auszugehen, dass seine Verzweiflung tiefer war als die Trauer seiner Hinterbliebenen nach seinem Tod jemals sein könnte.