Donnerstag, 10. August 2017

Das ichlose Glück




Ich möchte Sie zu einem Alptraum einladen. Sie werden in die Geschlossene eingewiesen. Warum, wissen Sie selbst nicht. Sie wissen jedoch ganz genau, wovor Sie sich fürchten: dass Sie am Ende, wenn Sie "geheilt" sind, ein apathischer und willenloser Idiot geworden sind. Und - was das Schlimmste daran ist - dabei auch noch glücklich. Wer würde da nicht die schwersten Depressionen, die unangenehmsten Symptome psychischer Erkrankungen lieber beibehalten wollen, wenn der Preis der Heilung die Preisgabe der eigenen Persönlichkeit wäre?

Als Kind habe ich in einem ähnlichen Alptraum gelebt. Die Erwachsenen malten mir eine kitschige heile Welt vor, eine Welt der Vollidioten, in der alle gleich waren, und jeder wunschlos glücklich. Eines Tages, sagten sie mir, wenn du auch erwachsen bist, wirst du heiraten, eine Familie gründen, nicht mehr spielen, sondern arbeiten, nicht mehr den kindlichen Unsinn im Kopf haben, sondern "vernünftig" sein. Und - was das Schlimmste für mich war - dabei auch noch glücklich. Ich hatte große Angst davor, dass ich nicht mehr ich sein würde, und dass irgendeine geisterhafte "Vernunft" sich meines Verstandes bemächtigen, mein Ich in einen Käfig sperren, und mich zu einem Roboter machen würde. Und dass die einzige noch denkbare Form des Ich-selbst-Seins, die Unzufriedenheit mit diesem Sklavendasein, auch noch wegfiele: ich wäre ja glücklich.

Als Jugendlicher konvertierte ich nach einer glanzvollen Phase des gesunden Nihilismus zum Christentum. Ich wuchs ja in der UdSSR auf, und der mir in der Kindheit eingetrichterte Heile-Welt-Kitsch war nicht christlich, sondern atheistisch-humanistisch, - doch nun wurde ich mit derselben als Himmel verklärten Hölle auf Erden konfrontiert. Wie einem Psychiatriepatienten und einem Kind wird auch einem Mitglied einer Religionsgemeinschaft das zu erstrebende "ewige" Leben als ein ichloses kollektives automatisches Dasein propagiert. Nur das Bewusstsein stört, nur das "böse" Ich steht dir im Weg, sagte man mir, - und wenn du dein Ich endlich dem "guten" Wir mit Freude und Dankbarkeit zu unterwerfen lernst, wirst du endlich glücklich sein. Das "böse" Ich gewann, es ließ sich nicht unterwerfen, es antwortete auf alle Einkerkerungsbemühungen mit der  einzigen noch denkbaren Form des Ich-selbst-Seins, der Unzufriedenheit, mit einer tiefen und nachhaltigen Depression. Also wurde ich dann konsequenterweise Buddhist, denn wenn schon die Vernichtung des Ich das wahre Glück sein sollte, dann wollte ich es richtig machen, und nicht nicht halb nicht ganz.

Nein, Glück ist nichts ohne die Persönlichkeit, die dabei glücklich ist. Viele träumen davon, z. B. Brad Pitt zu sein, und nein, nicht bloß davon, so reich und berühmt zu sein, sondern Brad Pitt, und nicht sie selbst zu sein. Dann hätten sie auch das Bewusstsein des durchaus passablen Schauspielers, aber nicht ihr eigenes. Sie wären nicht glücklich, sondern sie wären nicht. Nicht im Sinne von nicht existent. Ohne eigenes Ich gibt es kein Bewusstsein, und ohne Bewusstsein kein Glück. Das Ich als des Glückes Unterpfand bleibt beim Volke weitgehend unverstanden. Doch einer, der das Ich, die selbstbestimmte Persönlichkeit, diese notwendige aber nicht hinreichende Bedingung des Glücklichseins, bereits für das Glück selbst hält, gehört zu den narzisstischen Narren, aber mitnichten zum geistigen Adel.