Samstag, 6. April 2013

Individualindividualismus




1. Der Fehler des Egoismus liegt darin, dass er sich als unmoralisch versteht, als böse; das Bösesein soll den Egoisten von der moralhörigen Masse der Altruisten abheben. Der Egoist entscheidet sich aus Eitelkeit für das Böse und macht somit Antiwerbung für den Egoismus - der Altruist will sich wiederum aus Eitelkeit von der Eitelkeit des Egoisten abheben und fühlt sich in seinem Antiegoismus bestätigt. Wer sich als böse weiß, kennt das Gute, und wird sich letztlich bekehren und in den Schoss des heiligen Altruismus zurückfallen. Ein als unmoralisch verstandener Egoismus ist Koketterie, nicht mehr. 

2. Der Altruismus lebt vom Vertrauen; die Geborgenheitsillusion in der Masse lässt die Individuen ihre Individualität bis auf die Unteilbarkeit und Einzelheit ablegen; ein Massenindividualismus ist ein abstrakter Individualismus, ein Gemeinschaftsegoismus. Egoismus und Altruismus treffen sich in der Illusion der Geborgenheit wieder; Konkurrenz und Zusammenarbeit sind zwei Pole derselben
Egokugel. Das Individuum bezieht sich im Alruismus positiv und im Egoismus negativ auf die eigene Abstraktheit, welche nirgends transzendiert wird.

3. Wird das Individuum konkretes Ich, was es schon immer glaubt zu sein, besser sein zu können - wobei das Können niemals realisiert wird, denn der Versuch wäre eine Verzicht auf das Vertrauen - , so erfährt es, dass es die Anderen nicht gibt, oder nur als leere Abstraktion. Der Egoismus wird als Notwendigkeit erkannt, nicht als Option missverstanden; der Individualegoist erfährt sich auf seine konkrete Individualität, die Einsamkeit seiner Einzelheit, zurückgeworfen. Der Unterschied zwischen Egoismus und Altruismus, im Abstrakten noch spielerisch auseinandergehalten, verschwindet im Konkreten völlig. Die Täuschung fällt auf den Getäuschten zurück; die Anderen erweisen sich als eine Vorstellung des Ichs, die dazu dient, eine Illusion der Transzendenz zu erzeugen.

4. Der Individualegoist ist ein Solipsist, er erfährt die Welt als seine Vorstellung, wobei der Unterschied zwischen Kontingenz und Willkür zunächst nicht hervortritt. Das Ich bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen Allmacht und Ohnmacht; die Wahrheit beider Zustände ist die Realität anderer Ich. Der Solipsist hat keinen moralischen Bezugsrahmen, seine Moral unterliegt seiner Willkür. Die Kontingenz der äußeren - als vorgestellt vorgestellten - Realität erfährt er ebenso als Willkür; der Kampf der Willküren bestimmt über erfahrene Allmacht und Ohnmacht. Erst die Transzendenz des Wechselspiels von Allmacht und Ohnmacht macht den Solipsisten zum autonomen Ich, den Individualegoisten zum Individualindividualisten.

5. Der Individualindividualist erfährt die Kontingenz der äußeren Realität nicht mehr als Spiegel seiner Willkür; die anderen Individuen treten konkret hervor in ihrer Einzelheit und Kontingenz. Alle gibt es nicht mehr, es gibt nur noch Einzelne. Der sich auf alle beziehende Egoismus erweist sich als ein Weniger an Selbstsein und Selbstverantwortung, da er, anstatt auf eigenen Füßen zu stehen, von der moralischen Substanz vorgestellter Allheit zehrt. Der Altruismus bezieht sich positiv auf die vorgestellte Allheit und ist von ihr so abhängig wie der Egoismus; der Egoismus und der Altruismus spiegeln einander, sind in ihrer Subsanz dasselbe.


6. Der Individualindividualismus nimmt jeden Anderen in seiner Konkretheit wahr, nicht als einen Teil einer abstrakten Allheit. Was der  Individualindividualist einem bestimmten Anderen tut, das tut er nicht der Welt. Was ihm ein Anderer antut, tut ihm nicht die Welt an. Der Individualindividualist ist jenseits des Gut-Böse-Abstraktums, er lebt und erlebt konkret; er schuldet der Welt nichts und die Welt schuldet ihm nichts. Der Individualindividualismus ist die Spitze der Erkenntnis, dass niemand niemandem nichts schuldig ist und sein kann; er erkennt Schuld als ein abstraktes Verhältnis von Konkreten und jede Schuld als bereits im Prozess der Verschuldens bezahlt. Nur im Abstrakten kann Schuld als ungesühnt erfahren werden, die Schmerzverweigerung, die Wahrheitsverweigerung des sich unter der Schürze der Allheit versteckenden Nichtindividualisten - ob exhibitionstischer Gutmensch oder Schaf im Wolfspelz - hat nur solange Bestand wie sein Dasein als bloss abstraktes Ego, bis er in die Konkretheit seines Ich schreitet oder von der Realität zwangskonkretisiert wird.