Die Chancengleichheit ist ein weit verbreitetes Gerechtigkeitsideal.
Wer für sie eintritt, geht von der grundsätzlichen Gleichheit aller
Menschen aus. Von Natur sind doch alle gleich, oder? Nein. Jeder ist
anders, da hilft kein gewaltsamer Schluss vom Sollen auf das Sein:
die Natur hat uns alle verschieden gemacht, und die Umwelt verschärft
noch die Ungleichheit der Startbedingungen. Kein künstlicher
Ausgleich wird die Verschiedenheit der Menschen abschaffen, -
künstliche Beseitigung von Ungleichheiten mündet in der
sozialistischen Tyrannei der Ergebnisgerechtigkeit, die die
Eigeninitiative ad absurdum führt und die Menschen geistig und
moralisch lähmt.
In der Freiheit sind wir aber alle gleich, schließlich hat uns Gott
alle gleich geschaffen! Wirklich? Man kann dieses Dogma zur
Staatsverfassung machen, wahrer wird es dadurch nicht. In der Bibel
findet sich der gemeine Spruch, Gott hätte wie ein Töpfer souverän
entschieden, aus wem von uns er ein Gefäß für Reines, und aus wem
ein Gefäß für Unreines macht. Ungerecht? Ja, und doch sind wir
alle gleich: wir sind Töpfe aus dem gleichen Lehm. Ungleichheit wäre
somit gottgewollt, ein willkürlicher Entschluss unseres Herrn, aber
"eigentlich" sind wir doch gleich.
Was aber, wenn wir nicht gleich sind? Was, wenn die Ungleichheit
nicht erst mit dem Eintritt in eine bestimmte Welt auftritt, sondern
bereits in unseren unsterblichen Seelen manifestiert ist? Die Mystik
weiß, dass die Seele ungeschaffen ist. Gott hat die Monade Seele
nicht geschaffen, er hat sie nur geweckt. Nur weil wir in unserem
Wesen ungeschaffen sind, sind wir moralisch frei. Das hat aber die
Konsequenz, das wir grundsätzlich ungleich sind, noch vor unserer
Geburt. Wir sind Gott ähnlich, wir sind den Tieren ähnlich, und wir
sind einander ähnlich. Aber nicht gleich.