Samstag, 8. Dezember 2018

Die Jury (1996): Moralische Filmkritik





Vor 22 Jahren sah man im Kino die meisterhafte Verfilmung von Grishams Roman "Die Jury": im Süden der USA vergewaltigen zwei weiße Männer die zehnjährige Tochter eines Schwarzen, der sie daraufhin im Gerichtssaal vor ihrer Verhandlung mit einem M16-Sturmgewehr erschießt, und dabei leider einen Sicherheitsbeamten am Bein trifft. Der Fall scheint klar: der Vater des minderjährigen Vergewaltigungsopfers ist schuldig. Doch er wird aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat freigesprochen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: alle haben den eiskalten Rachemord mit angesehen, der Mann war voll zurechnungsfähig, und dennoch ist das Urteil "nicht schuldig" goldrichtig.

In Wiesbaden sah man es ähnlich, als man dem Film das Prädikat "besonders Wertvoll" verlieh, in Frankreich sah man es eher durch eine geschmacksverirrte Brille, so dass der Film als "dreckig", "ekelhaft" und "ultra-populistisch" beschimpft wurde, soweit Wikipedia nicht lügt. Wirbt der Film für Selbstjustiz? Dreckig, ekelhaft, und ultra-populistisch, dass dies dem Großteil aller Actionfilme, die genrebedingt oft Rachefilme sind, nie vorgeworfen wird, - warum eigentlich nicht? Wohl deshalb, weil man davon ausgeht, dass es solche Filme nicht ernst meinen. "A Time to Kill", wie "Die Jury" im Original heißt, meint es aber todernst. Nicht jeder ist dem Film gewachsen. Selbst das große Staraufgebot kann die Verstörung nicht aufwiegen, die dieser Film bei einer feigen Kriecherseele hinterlässt. Manchmal muss das Recht gebrochen werden, damit Recht geschieht. Nicht der Buchstabe, sondern der Geist des Gesetzes ist das Gesetz. Es gibt keine Entschuldigungen und keine Ausreden: das moralisch Richtige muss getan werden, auch wenn es gegen geltendes Recht verstößt. Diese Selbstverständlichkeiten sind es nicht, die den Film so besonders machen, sondern der Umstand, dass ein kaltblütiger Rachemörder für nicht schuldig wegen Unzurechnungsfähigkeit erklärt wird. Natürlich muss sein Anwalt dieses auf bessere Zeiten und Menschen hoffen lassende Urteil durch einen Trick erzwingen, indem er die Jury bei ihrem Rassismus packt, und sie vorstellen lässt, das vergewaltigte Mädchen wäre weiß gewesen. Sofort sieht jeder ein, dass die Vergewaltigung eines Mädchens - eines weißen Mädchens! Weiß, die Farbe der Unschuld, weißes Mädchen, das Objekt eigener Liebe und Begierde! - ein so grausames Verbrechen ist, dass sie den Täter außerhalb der Menschheit stellt, und moralisch vogelfrei macht.

Anders gesagt: jemandem, dessen Tochter vergewaltigt wird, ist solch unmenschliches Leid widerfahren, dass man ihn, sofern man sich selbst zurecht einen Menschen nennt, von jeglicher Schuldfähigkeit freisprechen muss. Es gibt Verbrechen, die ein derartiges Maß an Leid zugfügen, dass im existentiellen Ernst der Situation alles menschliche Recht nur noch als ein Spiel gesehen werden kann, und erst wenn das Recht in diesen existentiellen Extremsituationen gebrochen wird, erhält es seine Ernsthaftigkeit und Würde zurück.

Soll hier für Rache und Selbstjustiz plädiert werden? Eine dreckige, ekelhafte Frage. Warum nicht stattdessen die Frage stellen, ob hier womöglich in aller Ernsthaftigkeit aufgerufen werden soll, nicht zu vergewaltigen? Aber es ist doch selbstverständlich, dass man es nicht tun soll! - könnte man nun ausrufen, und wäre im Unrecht: Vergewaltigungen sind keine Erdbeben, keine Naturgewalten, sie werden von Menschen begangen, die genauso zurechnungsfähig sind wie die, die sich dafür rächen.

Selbstjustiz ist nicht ohne Grund ein Verbrechen, aber der Grund für Selbstjustiz ist immer ein vorangegangenes Verbrechen, und wer Selbstjustiz schärfer verurteilt, als das zugrundeliegende Verbrechen selbst, ist ein Verbrecher, der das Recht nur deshalb nicht bricht, weil er zu feige ist, es aber bei der ersten Gelegenheit sofort brechen würde. Im Urteil "nicht schuldig wegen Unzurechnungsfähigkeit" ist das Recht nicht ad absurdum geführt, sondern im Hegelschen Sinn aufgehoben: negiert und bewahrt zugleich, auf eine höhere Ebene gestellt. Es gibt Verbrechen, für deren Bestrafung das Recht hinreicht, und es gibt Greueltaten, die zu ungeheuerlich sind, um deren Handhabung zu verrechtlichen. Dazu gehört der systematische Kindesmissbrauch etwa durch Eltern genauso wie die im Film thematisierte Vergewaltigung. Dreckig und ekelhaft ist die Selbstgefälligkeit derer, die sich einen darauf runterholen, human zu sein, die im Angesicht unmenschlichen Leids als gute Menschen glänzen wollen, - dabei ist zu schweigen, und zu hoffen, dass keinem Kind so etwas jemals wieder passiert, das einzige, was die selbsternannten Guten tun können, um sich nicht als unzurechnungsfähig aufgrund eitler und überheblicher Blödheit zu erweisen.