Ich
bin entsetzt, dass ich nicht gleich im Paradies geboren wurde,
sondern das Unlicht dieser suboptimalen Welt erblicken musste. Der
Legende nach habe ich zwei Wochen nach meiner Geburt meine Augen
nicht aufgemacht, so wie eine Katze, oder jemand, der schon geahnt
hat, dass er in die falsche Welt gesetzt wurde. Habe ich alles
Schlechte an mir nicht erst durch die in meiner Kindheit und später
erfahrenen ästhetischen und moralischen Abscheulichkeiten erworben?
Oder hatte ich bereits ein schlechtes Karma, und musste mit der
Geburt in dieser Welt bestraft werden?
Wenn
diese Welt eine verdiente Strafe sein soll, will ich mich an meine
Verbrechen erinnern. Womöglich ist aber der Gedächtnisverlust auch
ein Teil der Strafe, - man kann jeden noch so abstrusen Glauben durch
passende Gründe plausibel machen. Was mich betrifft, glaube ich aber
an gar nichts. Ich habe mir oft gewünscht, glauben zu können, aber
es glaubt sich mir einfach nicht. Mag diese Welt sein, was sie will,
gilt doch für diese und jede andere Welt derselbe lockere aber weise
Spruch aus dem Matthäus-Evangelium (6,21): "Denn
wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz". Und mein Schatz ist
nicht in dieser Welt.
Mein "Schatz" ist
in einer Welt der moralischen und ästhetischen Perfektion. Jene Welt
ist schön und gut, aber ich werde vor meinem Tod niemals wissen
können, ob sie auch wahr ist. Ich habe kein einziges Argument für
die Existenz eines Jenseits, und ich werde mich nicht zum Glauben
zwingen. Alles Wissen, das mir zugänglich ist, das veri- und
falsifizierbar ist, alles wissenschaftlich qualifizierte Wissen
deutet darauf hin, dass der Erste Hauptsatz des Nihilismus wahr ist:
Es gibt kein Leben nach dem Tod.
Möge dem so sein, aber das
bedeutet mitnichten, dass mein "Schatz" damit
gezwungenermaßen ins Diesseits zurückgeholt wird. Wo mein Herz ist,
ist meine souveräne Entscheidung. Ich habe zwar die Willensfreiheit,
den kategorischen Imperativ zur Maxime meines Handelns zu machen. Zur
Selbsterlösung in ein Paradies der Glückseligkeit reicht die
Willensfreiheit jedoch nicht aus. Nun ist in dem Spruch "Denn
wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz" nicht das
physiologische Organ gemeint, sondern der Wille als individuelles
Begehrungsvermögen. Ich habe also auch die Freiheit, dieser Welt -
und sei sie alles, was überhaupt existiert, - einen Korb zu geben.
Der Traumprinz kann
heiraten, muss aber nicht. Der Mensch kann sich dem positiv Gegebenen
ausliefern, muss es aber nicht, - er kann eben auch in Freiheit und
Würde das Ideal verehren, und ist dadurch erst wahrhaft Mensch. Eine
nichtige Welt abzulehnen, ob aus ästhetischen oder moralischen
Gründen, ist eine Freiheit, die das Tier nicht hat, der Mensch aber
durchaus. Die Ablehnung des weltanschaulichen Nihilismus bedeutet
aber nicht, dass man dadurch gar zum tierischen Nihilisten wird,
indem man die nichtige Welt so verachtet, dass man alle ethischen
Bedenken vergisst und in einer Welt, die ohnehin ein Saustall ist,
die sprichwörtliche Sau rauslässt. Vielmehr sorgen die edlen Gründe
der Ablehnung des positiv Gegebenen - der ästhetische Ekel und das
moralische Entsetzen - dafür, dass man auch in der schlechtesten
aller Welten ein guter Mensch wird. Das ist der menschliche
Nihilismus, den die Moralphilosophie den heroischen Nihilismus nennt.